Schneller, höher, weiter – Gesetzgebung auf der Überholspur

29 April 2020

„Für diese Herausforderung gibt es keine Blaupause.“ Sätze dieser Art liest und hört man derzeit häufiger. Die Aussage stimmt – aber nur teilweise. Denn für die Gesetzgebung im Krisenmodus gibt es grundsätzlich durchaus Vorlagen und Vorbilder.

Ein Kommentar zur Corona-Gesetzgebung von Prof. Jasmin Riedl

Alter Wein in neuen Schläuchen

Neu ist zweifelsohne die sehr konkrete und massive gesundheitliche und medizinische Herausforderung, mit der wir es zu tun haben. Das beeinflusst intensiv die Politik, das Gesundheitssystem und das tägliche Leben eines jeden Einzelnen.

Aber die Art und Weise, wie das politische Personal aktuell seine Entscheidungen fällt, das ist alter Wein in neuen Schläuchen: geordnete parlamentarische Fristen, Befragungsrechte der Opposition, sachpolitische Ausschussarbeit, deliberative Verhandlung und parteipolitische Konkurrenz um das beste Argument – all das gibt es nur sehr begrenzt, wenn Gesetze im Krisenmodus gemacht werden. Das kennen wir von 9/11, von der Finanz- und Wirtschaftskrise ab 2008, vom Hochwasser 2013. Ein ähnliches Bild zeichnet jetzt die Corona-Gesetzgebung. 

Die Bundesregierung und ihre parlamentarische Mehrheit – die Fraktionen von SPD, CDU und CSU – bringt am 23. bzw. 24. März 2020 ein rekordverdächtiges Gesetzespaket auf den Weg, das nur vier Tage später, am 28. März, in Kraft tritt. Der Bundestag hält die erste, zweite und dritte Lesung an nur einem Tag ab, am 25. März. Die beteiligten Ausschüsse – allen voran der Haushaltsausschuss – legen ebenfalls am 25. März irgendwann zwischen erster und zweiter Lesung des Bundestages die Beschlussempfehlung für das Plenum vor. Der Bundesrat seinerseits berät und beschließt in einer Sondersitzung am 27. März.

Institutionelle Überholspur

Im Paket verschnürt sind wirtschaftspolitische und gesundheitspolitische Maßnahmen, samt einer nicht unerheblichen Kompetenzverschiebung zu Lasten der deutschen Länder und zu Gunsten des Bundesgesundheitsministers. Das Paket besteht aus sechs Einzelgesetzen, die ihrerseits wiederum fast 30 Gesetze ändern. Derweil übersteigt das Finanzvolumen die Marke von 600 Milliarden Euro. Es ist vermutlich das größte Gesetzespaket, das der deutsche Gesetzgeber seit Bestehen der Bundesrepublik verabschiedet hat – noch so ein Superlativ. Ein zweites Pandemie-Paket ist bereits vom Kabinett vereinbart.

Alle an der Gesetzgebung beteiligten politischen Akteure aus Regierung und Opposition, aus Bund und Ländern haben unter Hochdruck und mit Höchstgeschwindigkeit die institutionelle Überholspur geöffnet, um so schnell wie möglich den wirtschaftlichen und gesundheitlichen Schaden zu begrenzen, den die Pandemie in Deutschland hinterlässt. Schneller, höher, weiter – der Gesetzgeber gibt Vollgas. Aber warum gelingt das gerade in Krisenzeiten?

Pastelltöne, Lernen und Spielregeln

Hierfür gibt es vor allem zwei Gründe: Erstens sind Krisenzeiten nicht nur Zeiten der Exekutive, sondern vor allem Zeiten des kurzzeitigen parteiübergreifenden Konsens. Abgeordnete sind bereit, Konkurrenz und Wettbewerb für einen überschaubaren Zeitraum hintanzustellen. Parteifarben werden zu Pastelltönen. Das politische Personal hat vor allem im Blick, zügig auf die Krise zu antworten. Man will also vermeiden, den richtigen – häufig sehr frühen – Zeitpunkt zu verpassen: Kommen finanzielle Soforthilfen für Kleinunternehmen beispielsweise erst nach drei bis vier Monaten – so lange dauern Gesetzgebungsprozesse üblicherweise –, dann sind die Soforthilfen nicht (mehr) geeignet, sondern vermutlich eher flankierende Maßnahmen zum Insolvenzverfahren.

In akuten Krisen besteht daher eine hohe Dringlichkeit zu handeln, insbesondere bei Krisen mit überdeutlicher, flächendeckender wirtschaftlicher Auswirkung. Hinzu kommt, dass Wählerinnen und Wähler in Krisenzeiten besonders kritisch beobachten, wie gut die Beteiligten an einem Strang ziehen und wie gut es ihnen gelingt, in diesen Zeiten als unnötig empfundene parteipolitische „Scharmützel“ beiseite zu legen. Die durchaus wichtige parteipolitische Auseinandersetzung wird dann schnell als sachpolitische Untätigkeit oder falsche Priorisierung interpretiert – sie wird nicht goutiert. Die Wählerschaft straft vielmehr schnell und effektiv mit Vertrauensentzug. Deshalb gibt es bisher kaum eine klar erkennbare Farbenlehre bei der Corona-Gesetzgebung. Es herrscht stattdessen parteipolitische Harmonie, noch.

Zweitens gibt es im politischen System Deutschlands bestimmte Mechanismen der Politikgestaltung, die im Krisenmodus hilfreich sind und die der Gesetzgeber in vorausgegangenen Krisen noch optimiert hat. Dies nennt man institutionelles Lernen. Allen voran hat die Finanz- und Wirtschaftskrise ab 2008 für die aktuelle Schnelligkeit der Corona-Gesetze enorme Bedeutung. Die seinerzeit erfolgreich eingeschlagenen „kurzen Wege“ konnten rasch wieder freigelegt werden: außerparlamentarische Absprache zwischen Regierung und Opposition, bevor das Gesetzespaket offiziell zur Beratung vorlag, wirtschafts- und finanzpolitische Maßnahmen in Anlehnung an die der Finanzkrise, Befristung von Gesetzen zur Auslagerung von Konflikten auf einen späteren Zeitpunkt. Hinzu treten die institutionellen Besonderheiten der Bundesrepublik: tendenzielle Exekutivlastigkeit und Entparlamentarisierung, disziplinierte Fraktionen, auf Kooperation ausgelegter Föderalismus und durch zahlreiche konsensdemokratische Prinzipien etwas geringer ausgeprägte Parteienkonkurrenz. Die Spielregeln der deutschen Politik helfen in der Krise mehr, als so mancher Föderalismuskritiker meint.

Konflikte nur zurückgestellt

Die hohe Reaktionsgeschwindigkeit des Gesetzgebers ist also nichts Neues. Sie fußt auf institutionellem Lernen, Akteursstrategien und den spezifischen Spielregeln deutscher Politikgestaltung. Letztere – Strategien und Regeln – können bei sogenanntem exogenen Handlungsdruck, also in akuten Krisensituationen, deutlich auf „Tempo“ gepolt werden. Die Blaupause dafür bietet vor allem die Finanz- und Wirtschaftskrise ab 2008.

Wer sich nun aber sorgt, die Bedeutung bedächtiger und auch im Wettbewerb ausgefochtener Politik neige sich gänzlich dem Ende zu, dem sei gesagt: So einhellig wie es aktuell scheint – und diese Einhelligkeit ist essenziell für schnelle Gesetzgebung – wird es nicht bleiben. Der für eine Demokratie so wichtige politische Streit um die besten Lösungen, wird sehr bald zurück sein und auch die parlamentarische Opposition wird ihrer Kontrollfunktion wieder stärker und öffentlichkeitswirksam nachkommen. Konflikte sind nur temporär zurückgestellt, nicht aufgelöst. Die ersten Widerstände gegen den Regierungskurs – nicht nur im Bund, sondern auch in den Ländern – machen sich bereits bemerkbar. Das zeigt nicht nur die schwierige Diskussion um die schrittweise Rückkehr aus dem „Lockdown“. Die Bundestagswahl im nächsten Jahr wirft bereits jetzt ihren personellen und parteipolitischen Schatten voraus; spätestens im kommenden Wahlkampf 2021 wird dies sehr deutlich zu Tage treten.


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Titelbild: Prof. Jasmin Riedl