Veröffentlichung: Warum töten Menschen im Völkermord?

7 Januar 2021

Prof. Timothy Williams geht in seiner neuen Monographie der Frage nach, welche Motivationen Menschen dazu veranlassen sich am Völkermord zu beteiligen.

Völkermord gilt als herausragendes Verbrechen, da es sich hierbei um den intendierten Versuch handelt, eine andere Gruppe komplett auszulöschen. Der Holocaust gilt als paradigmatisches Beispiel, aber seither hat es immer wieder solche Massengewalt gegeben, beispielsweise in den späten 1970ern in Kambodscha oder Anfang der 1990er Jahre in Ruanda und dem zerfallenden Jugoslawien. In den letzten Jahren ist zunehmend über das Gewaltereignis hinaus auch der Blick auf die Täterinnen und Täter gelenkt worden.

Die Komplexität des Bösen

Mediale und kulturelle Darstellungen dieser Täter/-innen legen oftmals ihren Zuschauern/-innen nahe, dass diese inhärent böse sind oder fanatisch extremen Ideologien nacheifern. Solche Darstellungen werden gerne akzeptiert, denn sie konstruieren die Täter/-innen als ‚die anderen‘, als Unmenschen und ihr Handeln als etwas für uns ‚Normale‘ nicht Vorstellbares. Doch sind die Gründe einer Beteiligung am Völkermord durchaus komplexer und die Motivationen vielschichtiger und alltäglicher als man aus diesen Darstellungen vermuten würde. In Anspielung auf Hannah Arendts Idee der Banalität des Bösen hat der Konfliktforscher und Politikwissenschaftler Jun.-Prof. Timothy Williams, Professur für Unsicherheitsforschung und gesellschaftliche Ordnungsbildung in seinem neuen Buch The Complexity of Evil. Perpetration and Genocide diese komplexeren Motivationen zur Beteiligung am Völkermord untersucht und modelliert.

Die Grundlage dieser Idee der Komplexität des Bösen ist, dass es immer wieder dieselben Motivationen sind, welche in verschiedenen Kontexten Menschen motivieren, zu Täter/-innen zu werden; gleichzeitig sind diese widerkehrenden Motivationen recht divers und komplex. Einerseits sind Gruppendynamiken innerhalb dieser Gruppe zentral: so können Vorgesetzte, Kollegen und Kolleginnen oder Freunde/ Freundinnen Druck ausüben oder sogar drohen, manchmal fühlen sich die Täter/-innen auch nur unter Druck gesetzt oder wollen nicht aus der Gruppe ausgeschlossen werden. Andererseits können sich Motivationen durch Ideologien oder Emotionen auf die Opfergruppe beziehen. Des Weiteren werden einzelne Personen oft von opportunistischen Faktoren geleitet, wie z.B. der Hoffnung auf materielle Vorteile, Beförderungen in der Karriere oder der Chance, persönliche Konflikte unter dem Deckmantel des Völkermords auszufechten.

Gruppendynamik macht Anonymität möglich

Über diese Motivationen als ausschlaggebende Impulse zur Beteiligung hinaus gibt es eine Vielzahl erleichternder Faktoren, die die Täterschaft zwar einfacher machen, aber nicht alleine dazu führen würden. Hierzu zählen verschiedene Gruppendynamiken, die den Täter/-innen die Verantwortung für ihre Taten abnehmen oder ihnen Anonymität bieten, dehumanisierende Zuschreibungen oder soziale, emotionale oder physische Distanzierungen, die eine Identifikation mit dem Opfer erschweren. Gerade in diesem Bereich entfalten Ideologien ihre Wirkung am ehesten, nicht etwa als grundlegende Motivation, sondern als Faktor, mit dem der Völkermord und die Täterschaft gerechtfertigt oder als notwendig charakterisiert wird.

Diese und verschiedene weitere Faktoren sind eingebettet in spezifische Kontexte, welche die Bedingungen für Täterschaft prägen. Staatliche Machtstrukturen, ökonomische Möglichkeiten, das Rechtssystem sowie der ideologische Rahmen kreieren diesen Kontext ebenso wie kulturelle Faktoren, sodass unterschiedliche Motivationen und erleichternde Faktoren wahrscheinlicher werden.

Im Moment der Täterschaft wirken eine Vielzahl von Motivationen und erleichternde Faktoren; allerdings wirken sie bei verschiedenen Individuen unterschiedlich und ebenso können sie sich über die Zeit verändern. Trotz dieser Varianz gibt es Muster, die auch zwischen den Kontexten verschiedener Völkermorde variieren. So greift das Buch auf vorhandene Erkenntnisse zum Holocaust, Ruanda und anderer Fälle zurück und verbindet und vergleicht diese mit Analysen eigener Interviews z.B. mit ehemaligen Kadern der Roten Khmer aus Kambodscha.

Mit dieser neuen Perspektive auf die Täter/-innen und die Täterschaft wird es möglich, besser zu modellieren, wann sich Personen am Völkermord beteiligen (und wann nicht). Dies könnte wichtige Impulse sowohl für die Prävention wie auch für eine sinnvolle Aufarbeitung der Geschehnisse nach einem Völkermord liefern.


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Titelbild: © iStockphoto / traveler1116