Wie Romane das Verständnis von Forschung prägen

18 Juni 2021

Wie versteht man eine Pandemie, wenn man noch nie eine Pandemie erlebt hat? Im letzten Jahr gab es viele Vergleiche der aktuellen Situation mit Szenen aus Büchern und Filmen. Ein soziologisches Forschungsprojekt untersucht nun, wie journalistische Leitmedien, insbesondere im Feuilleton und im Wissenschaftsressort, diese Verweise auf fiktionale Erzählungen nutzen, um die Pandemie zu beschreiben, zu verstehen und zu erklären.

Für den Großteil der Gesellschaft war der Ausbruch der Covid-19 Pandemie eine völlig neue Erfahrung in ihrer Biografie. Wie kann man einen solchen Einschnitt ins private, berufliche und gesellschaftliche Leben verstehen und akzeptieren, wenn man nicht auf vergleichbare Erfahrungen zurückgreifen kann? Viele Artikel in Tageszeitungen und Onlinemedien griffen zu Beginn der Pandemie 2020 auf literarische Verweise zurück.

An der Universität der Bundeswehr München arbeitet Fabian Hempel zusammen mit Prof. Sina Farzin von der Professur für Allgemeine Soziologie an einem Sonderprojekt im Rahmen des mehrjährigen Projekts „Fiction Meets Science“ (FMS, übersetzt in etwa: Fiktion trifft Wissenschaft), welches sie gemeinsam mit Forschenden der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg bearbeitet. Das Teilprojekt „Pandemic Meets Science“ beschäftigt sich mit den kulturellen Auseinandersetzungen mit dem Covid-19-Ausbruch in klassischen und sozialen Medien. Es wird untersucht, wie diese Medien auf die aktuelle Situation der (wahrgenommenen) Krise reagieren.

Wie wird Wissenschaft im Feuilleton erklärt?

Das Projektteam an der Universität der Bundeswehr München führt eine vergleichende Analyse deutscher und englischsprachiger Zeitungsartikel aus der Zeit zu Beginn der Pandemie durch. Als Auswahl werden die großen, überregionalen Tages- und Wochenzeitungen Frankfurter Allgemeine Zeitung, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, Der Spiegel, Die ZEIT sowie die Süddeutsche Zeitung und die englischsprachigen Zeitungen The Guardian, The Economist, The New York Times und das Time Magazine analysiert. Projektmitarbeiter Fabian Hempel geht der Frage nach, auf welche fiktionalen Narrative in dieser Zeit in Bezug auf die Pandemie verwiesen wird. Das wohl bekannteste Beispiel ist der 1947 erschienene Roman „Die Pest“ von Albert Camus. Das Buch war 2020 zwischenzeitlich sogar im Buchhandel vergriffen, da so viele Menschen es wieder oder zum ersten Mal lesen wollten. Die soziologische Forschungsfrage dabei lautet, inwiefern kulturelle tradierte Narrative, Wissenschaftserzählungen und Stereotype Vorstellungen von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern die Wahrnehmung der aktuellen Pandemie prägen. Neben den Verweisen auf fiktionale Literatur werden besonders im Internet und in Sozialen Medien auch Verweise auf Filme gezogen. Medizinisches Personal oder Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Virologie wurden in den vergangenen Monaten u.a. als Superhelden dargestellt um ihre Rolle in der Pandemiebekämpfung darzustellen. Diesen Aspekt beleuchten Forschende der Universität Oldenburg in einem anderen Teilprojekt von FMS.

„Pandemic Meets Science“ befindet sich derzeit in der ersten Phase, in der ein Überblick über die betreffenden Artikel in den genannten Medien geschaffen wird. Anschließend sollen die gefundenen Verweise auf kulturelle Anspielungen in der Feinanalyse weiter untersucht werden. Zum Abschluss des Projekts wird ein Workshop für Forschende aus der Literatur- und Kulturwissenschaft sowie der Soziologie geplant.

Fiction Meets Science

Das Projekt Fiction Meets Science ist ein interdisziplinäres und internationales akademisches Forschungsprogramm aus literaturwissenschaftlichen und soziologischen Studien, Residenzen für Schriftstellerinnen und Schriftsteller, Buchclubs und öffentlichen Lesungen. Im Zentrum steht der interdisziplinäre Austausch zwischen Geistes-, Kunst- und Naturwissenschaften.

Ein Fokus der Untersuchungen ist die Darstellung der Naturwissenschaften in der Literatur. In den letzten Jahrzehnten haben Schriftstellerinnen und Schriftsteller neue Arten von Geschichten über die Wissenschaft verfasst. Sie reflektieren mit den Mitteln der Erzählung die wissenschaftlichen Praktiken, Konzepte, Institutionen, Personen, Erkenntnisse und deren gesellschaftliche Auswirkungen. FMS analysiert, welches Bild der Wissenschaft zeitgenössische Erzählungen in verschiedenen fiktionalen und nicht-fiktionalen Medien und Genres vermitteln und ob das Denken über Wissenschaft in der Fiktion auch zu neuen Formen der Fiktionalisierung führt.

Eine entscheidende Frage ist, auf welche Weise ein Roman, ein Film oder ein Theaterstück die Wissenschaft zugänglicher machen kann, zur Debatte über die gesellschaftlichen Hoffnungen und Befürchtungen, die wissenschaftliche Erkenntnisse begleiten, beiträgt und die Neugierde auf wissenschaftliches Denken und Arbeiten auch jenseits des wissenschaftlichen Fachpublikums wecken kann.

Das Forschungsprojekt von Fabian Hempel an der Universität der Bundeswehr München, das im April 2021 startete, ist ein zusätzliches Modul, das durch die Volkswagen Stiftung im Rahmen von „Corona Crisis and Beyond – Perspectives for Science, Scholarship and Society“ für ein Jahr gefördert wird. Es wird sich auf die Ergebnisse von FMS stützen und durch interdisziplinäre Zusammenarbeit erweitern.


Mehr Informationen zur Forschung von Prof. Sina Farzin und Fabian Hempel finden Sie hier >>


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