Welche Folgen hat die Pandemie für Demokratien?

16 Dezember 2020

Unsere Gesellschaft und unser demokratischer Rechtsstaat werden durch die Corona-Pandemie vor große Aufgaben gestellt. Tagtäglich geht es darum, in unserem föderalen System unabdingbare Maßnahmen so schnell wie möglich umzusetzen und ständig den aktuellen Erfordernissen anzupassen. Was bedeutet das für das Demokratieverständnis in Deutschland, aber auch weltweit?

Ein Interview mit Prof. Hedwig Richter, Professorin für Neuere und Neueste Geschichte

Prof. Richter, wie demokratisch schätzen Sie die Corona-Politik in Deutschland ein?

Wir leben in einer stabilen, gut funktionierenden Demokratie, da gibt es für mich keine Zweifel. Und es ist auch für eine Demokratie wichtig, dass sie in solchen Krisensituationen schnell reagieren kann. Insofern ist es vertretbar, dass das Parlament nicht die Rolle gespielt hat, die es sonst spielt. Zudem gibt es die Gerichte, die für eine Überprüfung der Maßnahmen sorgen. Schließlich sollten wir nicht vergessen, dass das Gremium, das für die meisten Corona-Maßnahmen zuständig ist, die Kanzlerin und die Ministerpräsidentinnen und -präsidenten, in ihrem Amt eine starke demokratische Legitimation haben.

Wie gut oder schlecht ist das föderalistische System in Deutschland bei der Bekämpfung der Pandemie?

Offensichtlich sehr gut. Der Föderalismus als Teil der für liberale Demokratien so wichtigen Machtbalance (oder Checks & Balances) hat sich in Deutschland sehr oft als demokratiefördernd und effektiv erwiesen. Es ist in einer solchen Pandemie wichtig, nicht einfach zentral zu steuern, sondern einen Blick auf die Regionen zu haben. Bei unserem Nachbarn Frankreich sehen wir, dass die zentrale Steuerung sich immer wieder als suboptimal erweist.

Welche Folgen hat aus Ihrer Forschungssicht heraus Corona für unsere Demokratie?

Momentan sieht es so aus, dass die Demokratie eher gefestigt aus dieser Pandemie hervorgeht. Für Demokratien wichtige Elemente wurden bisher jedenfalls gestärkt: etwa das Vertrauen in die Regierung oder auch eine Mentalität der Bürgerinnen und Bürger, auf Sachverstand zu setzen und auf Informiertheit. Die Beliebtheit des Podcasts mit Christian Drosten und Sandra Ciesek ist geradezu ein Symbol für diese nüchterne bürgerliche Haltung eines großen Teils in der Bevölkerung. Leider wird in den Medien der kleinen Minderheit an Verschwörungsleuten viel größere Aufmerksamkeit eingeräumt.

Wie würden Sie persönlich die weitere Entwicklung einschätzen: Schwächt die Pandemie die Demokratien weltweit?

Nein, das glaube ich nicht. Wenn in einer Demokratie nicht gerade ein Macho als Regierungschef an der Spitze steht, hat die Pandemie eher gezeigt, dass nicht nur autoritäre Regime wie China schnelle und effektive Maßnahmen umsetzen können, sondern auch freie Gesellschaften. Wir können Pandemiebekämpfung und Freiheit unter einen Hut bringen, wenn wir es klug anstellen. Die New York Times hat schon früh darauf verwiesen, dass Länder mit weiblichen Regierungsspitzen in aller Regel wesentlich besser mit der Corona-Pandemie zurechtkommen. Das erscheint mir insofern zukunftsweisend, als sich diese Länder durch höhere Reflexivität, weniger Chauvinismus und weniger machtvolle Gesten, mehr Nüchternheit und stärkere Diversität und durch ein breiteres Spektrum an Expertenwissen auszeichnen (so die überzeugende Analyse der New York Times). Egal ob unter einem Mann oder unter einer Frau: Diese größere Offenheit und Vielfalt scheinen mir für die Zukunft liberaler Demokratien wichtig zu sein.

 

Prof. Hedwig Richter ist seit Januar 2020 an der Universität der Bundeswehr München tätig. Dort hat sie die Professur für Neuere und Neueste Geschichte an der Fakultät für Staats- und Sozialwissenschaften inne. In ihrer Forschung beschäftigt sie sich vor allem mit der Geschichte Europas und Nordamerikas im 19. und 20. Jahrhundert. Neben ihrer akademischen Tätigkeit schreibt Prof. Richter u.a. für die FAZ und die Süddeutsche Zeitung. Vor kurzem erschien ihr neuestes Buch: Demokratie. Eine deutsche Affäre (C.H.Beck, August 2020). Für ihre Publikation erhielt Prof. Richter den Anna Krüger Preis des Wissenschaftskollegs zu Berlin sowie eine Nominierung für den Bayerischen Buchpreis 2020 in der Kategorie Sachbuch. Im Oktober 2020 belegte sie mit „Demokratie. Eine deutsche Affäre“ Platz 1 der ZEIT Sachbuch Bestenliste. Weitere Informationen zu Prof. Hedwig Richter und ihrer Professur finden Sie hier >>


Titelbild: © iStockphoto / Nutthaseth Vanchaichana