Können Erwachsene zu „richtigem Verhalten“ erzogen werden?

1 März 2021

Wie werden Bevölkerungen in Zeiten von Corona durch Politik und Wissenschaft kollektiv erzogen und belehrt? Perspektiven der Erwachsenenbildung in einer globalen Pandemie.

In einer aktuellen empirischen Untersuchung wollen Prof. Burkhard Schäffer und Dr. Denise Klinge vom Institut für Bildungswissenschaft der Universität der Bundeswehr München zusammen mit Prof. Arnd-Michael Nohl von der HSU Hamburg herausfinden, wie Erwachsene durch eine Kombination von Belehrung und Erziehung dazu gebracht werden, bestimmtes Wissen und konkrete Verhaltensweisen angesichts der Corona-Pandemie zu übernehmen (AHA-Regeln etc.). Das Projekt wird von der VW-Stiftung gefördert und startet mit dem Titel „Zwischen ‘Erziehung’ und ‘Vermittlung von Wissen’ für Erwachsene. Andragogische Perspektiven auf die Corona-Pandemie“ am 1. April 2021. Dabei untersuchen sie aus einer andragogischen Perspektive, d.h. auf Lernen und Erziehung Erwachsener bezogen, Reden, Podcasts, Memes und Interviews aus der Zeit der Corona-Pandemie.

Durch die Analyse von Reden aus der Politik, Beiträgen von Expertinnen und Experten, narrativen Interviews mit Bürgerinnen und Bürgern und Social-Media-Beiträgen werden sowohl die andragogischen Aktionen von Regierenden als auch die Aneignungsweisen der erwachsenen Bevölkerung rekonstruiert und typisiert. Das Projekt leistet einen wesentlichen Beitrag zur Erforschung von Krisenkommunikation in Form von Erziehung und Wissensvermittlung seitens staatlicher und wissenschaftlicher Akteure. Die Ergebnisse aus diesem Forschungsprojekt helfen beim Verständnis darüber wie wissenschaftliches Wissen angeeignet wird und wie Erwachsene mit staatlichen Belehrungen und Erziehung umgehen.

So bringt man die Bevölkerung dazu, die Regeln einzuhalten

In der Corona-Pandemie ist das Verhalten einzelner Bürgerinnen und Bürger entscheidend für den Erfolg der eingeleiteten Maßnahmen. Insofern sind politisch Verantwortliche hier auf Folgebereitschaften angewiesen, die in einer Demokratie nicht erzwungen, sondern auf andere Art hergestellt werden müssen. Hier setzt das Projekt an und untersucht empirisch aus einer erziehungswissenschaftlichen Perspektive die Arten und Weisen, wie Bevölkerungen durch eine Kombination von Belehrung und Erziehung dazu gebracht werden, Entscheidungen nachzuvollziehen und mitzutragen sowie ihr Verhalten zu verändern. Auch wird eruiert, wie die Bevölkerung mit diesen Formen der andragogischen Kommunikation umgeht. Die Kommunikation von Politikerinnen und Politikern, aber auch von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern wird insofern als ein umfassendes andragogisches Projekt interpretiert, in dem einerseits der Versuch unternommen wird, durch „Lehren“ Wissen an erwachsene Personen zu vermitteln und andererseits durch „Erziehung“ gewünschte Verhaltensweisen Erwachsener einzuführen, wie z.B. die AHA-Regeln oder aktuell: sich impfen zu lassen. Oft bedingen sich belehrende und erziehende Dimensionen auch gegenseitig, wenn z.B. erklärt wird, warum es wichtig ist, dies oder jenes zu tun.

Politische Erziehung als Orientierungszumutung

Politische Anstrengungen, die in diese Richtung gehen, können im Sinne einer „politischen Erziehung“ als eine explizierte „Orientierungszumutung“ (Nohl) verstanden werden, zu welcher sich Erwachsene dann verhalten (können). In der Erwachsenenbildung wird der Erziehungsbegriff bislang selten verwendet, zumeist mit dem Argument, dass Erwachsene per se als mündige Personen gefasst werden, die nicht „erzogen“, sondern allenfalls „gebildet“ werden sollten. Die Ausgrenzung des Erziehungsbegriffs bei andragogischen Fragestellungen ist jedoch empirisch unbefriedigend, da es Anhaltspunkte dafür gibt, dass Erwachsene in vielen Bereichen durchaus auch „erzogen“ werden. Interessant ist deshalb, welche Modi des Erziehens im Kontinuum von Wissensvermittlung, gutem Zureden, Zwang, Überredung, etc. zum Tragen kommen. In welchen Kontexten werden sie eingesetzt und wie wird damit auf Seiten der zu belehrenden und zu erziehenden Erwachsenen umgegangen?

Reden, Podcasts, Memes und Interviews werden untersucht

Im Projekt wird dieser Fragenkomplex empirisch in einem Vier-Ebenen-Modell, das am Lehrstuhl Erwachsenenbildung in einem seit Januar 2020 laufenden Studienprojekt entwickelt wurde (vgl. Abb. 1) untersucht.

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Abbildung 1: Coronadiskurs (© Universität der Bundeswehr München / Institut für Bildungswissenschaften)

Auf der ersten Ebene wird die „Erziehung“ durch Politikerinnen und Politiker im Medium der Rede an „ihre“ Bevölkerungen analysiert. Welche pädagogischen Elemente, wie Ermahnung, Ermutigung, Rügen, Strafandrohung lassen sich z.B. bei der Rede von Angela Merkel am 18.03.2020 im Vergleich zu Reden von Emanuel Macron, Donald Trump, der Queen oder anderen Spitzenpolitikerinnen und -politikern herausarbeiten? (vgl. Abb. 2)

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Abbildung 2: Screenshot vom Beginn einer Analyse einer Rede Angela Merkels vom 18.03.2020 (© Universität der Bundeswehr München / Institut für Bildungswissenschaften)

Auf der zweiten Ebene lässt sich die Vermittlung von Wissen und Haltungen durch Expertinnen und Experten als andragogisches Lehrformat deuten. Datenmaterial sind hier primär die Podcasts von Christian Drosten und Alexander Kekulé und ausgewählte Beiträge einzelner Virologinnen und Virologen, Epidemiologinnen und Epidemiologen sowie anderen Personen aus dem medizinischen Spektrum. Ziel ist hier, die implizite Andragogik auf der Ebene der Vermittlung wissenschaftlichen Wissens herauszuarbeiten und die wissenschaftlichen Rahmungen im Zusammenspiel und teilweise in Konflikt mit Ansprüchen des Medien- und des politischen Systems aufzuzeigen.

Auf der dritten Ebene werden mögliche Umgangsformen bzw. Bewältigungspraktiken im Bereich von Social Media untersucht. So können Memes, die millionenfach bei WhatsApp, Telegram, Reddit oder Instagram geteilt werden, analog zu „Schülerreaktionen“ betrachtet werden: Die zu Erziehenden machen sich mit Witzen und Herabwürdigungen der Erziehenden etc. seit jeher die pädagogische Zwangssituation erträglicher. Schließlich sollen – gewissermaßen als härteste Kontrastfolie – Verschwörungstheorien hinzugezogen werden. Sie finden sich auch im pädagogischen Sprachspiel wieder: im Rebell, der sich blind und wenig von Vernunftgründen geleitet, gegen die Erzieher auflehnt („Merkel muss weg“).

Auf der vierten und letzten Ebene liegt der Fokus auf der Aneignung der im Coronadiskurs repräsentierten Erziehungs- und Vermittlungsbemühungen auf Seiten der Bevölkerung. Hier werden Rahmungen des Alltagswissens und -handelns der Bürgerinnen und Bürger in den Blick genommen: Wie verhalten sich diese Personen zu den impliziten und expliziten Erziehungsversuchen von Seiten der Politikerinnen und Politiker sowie der Belehrung durch Expertinnen und Experten in Coronazeiten?

Politische Reden, Podcasts, Memes und Verschwörungsmythen bilden im Rahmen des Projekts also das empirische Material, in welchem sich Orientierungen im Hinblick auf Erziehung und Belehrung der Bevölkerung bzw. erste Reaktionen hierauf im Sinne eines „Coronadiskurses“ dokumentieren. Die verschiedenen Materialarten werden mit narrations- und bildanalytischen Verfahren bearbeitet. Sämtliches empirisches Material wird mit der Dokumentarischen Methode (Bohnsack) unter Zuhilfenahme der Analysesoftware DokuMet QDA analysiert, die am Lehrstuhl Erwachsenenbildung entwickelt wurde (von der auch der Screenshot der Analyse der Rede von Angela Merkel in Abb.2 stammt).

Möglichkeiten und Grenzen politischer Erziehung und Wissensvermittlung für Erwachsene

Das Projekt zielt auf eine Typisierung der andragogischen Anteile am Coronadiskurs sowie der Rezeption und Aneignung dieses Diskurses auf Seiten der Bevölkerung. Es verspricht Ergebnisse zur Beantwortung der Frage, welche Formen von Belehrung und Erziehung letztendlich erfolgreich sind, um bestimmtes Wissen und konkrete Verhaltensweisen im Hinblick auf die Corona-Pandemie zu übernehmen. Die erziehungswissenschaftlich-empirische Perspektive des Projekts ermöglicht es für die Praxis relevante Schlussfolgerungen von Möglichkeiten und Grenzen politischer Erziehung und Wissensvermittlung für Erwachsene zu ziehen.

 

Das Projekt wird von der VW-Stiftung (AZ: 99 317) gefördert und startet am 01.04.2021. Projektbeteiligte: Prof. Burkhard Schäffer und Dr. Denise Klinge, UniBw M sowie Prof. Arnd-Michael Nohl, HSU Hamburg.


Weitere Informationen dazu finden Sie hier auf der Seite der Volkswagenstiftung >>

Mehr über die Forschung von Prof. Schäffer finden Sie auf seiner Professurseite >>


Titelbild: © iStockphoto / http://www.fotogestoeber.de