Geschlossene Geschäfte: Direktvertrieb in Zeiten von Corona

26 Mai 2020

Geschlossene Geschäfte und Kontaktbeschränkungen – in letzter Zeit war Direktvertrieb beim Kunden zu Hause unmöglich. Welche Chancen bietet die Krise für diesen Wirtschaftszweig?

Ein Beitrag von Prof. Carsten Rennhak, Professor für Public Relations und Marketing an der Fakultät für Betriebswirtschaft

Die Corona-bedingten Einschränkungen im stationären Einzelhandel in den letzten Wochen waren für jeden und jede Einzelne von uns spürbar. Doch auch andere Verkaufswege sind durch die Krise stark betroffen. Es konnten etwa keine Termine bei Kunden vor Ort mehr für Beratung und Verkauf wahrgenommen werden. Dies traf eine besonders dynamische Branche: In den letzten zwölf Jahren hat sich der Umsatz im Endkunden-Direktvertrieb in Deutschland verdoppelt. 2018 erzielte die Branche mit 889.000 meist selbst­ständigen Beraterinnen und Beratern 17,7 Milliarden Euro Umsatz.

Verkaufspartys als Ausgleich zum Online-Shopping

Der „Hype“ um Verkaufspartys lässt sich zum einen dadurch erklären, dass die Teilnehmerinnen und Teilnehmer sie als emotionalen Event bei sich zu Hause wahrnehmen. Rein funktionale Einkäufe erledigen Kundinnen und Kunden heute zunehmend online oder bei Discountern. Dadurch entsteht aber ein gewisses „Erlebnisdefizit“. Diese Lücke gleichen die Konsumenten dadurch aus, dass sie ganz bewusst Einkaufserlebnisse in Flagship-Stores oder auf Verkaufspartys suchen. Emotionen schaffen Differenzierungs­möglichkeiten, wenn sich Produkte in technischen Eigenschaften und Basisfunktionen immer ähnlicher werden. Komplexere Geräte kann man sich von speziell geschultem Personal in angenehmer Atmosphäre in Ruhe erklären lassen.

Zum anderen gibt es einen angebotsseitigen Erklärungsansatz: In den verschiedenen Studien des Instituts für Organisationskommunikation zum Thema zeigt sich, dass die meist weiblichen Beraterinnen überwiegend in Teilzeit oder nebenberuflich arbeiten. Die in den letzten Jahren verbesserten Möglichkeiten der Kinderbetreuung halfen deutlich die Zahl der Beraterinnen/Berater und auch die Zahl der Veranstaltungen pro Beraterin/Berater zu erhöhen. Wie die Studien zeigen, werden die relativ flexiblen Arbeitszeiten im Direktvertrieb und die recht gute Vereinbarung von Familie und Beruf von den Beraterinnen/Beratern geschätzt. 

Online-Partys als Ersatz für Verkaufsevents zu Hause

Die Coronakrise stellt nun aber auch den Direktvertrieb vor große Heraus­forderungen. Verkaufspartys können seit März aufgrund der Distanzierungs­maßnahmen zur Pandemieeindämmung nicht mehr stattfinden; auch die Planung von Events im Restjahr ist schwierig geworden. Der Bundesverband Direktvertrieb Deutschland erwartet zweitstellige Umsatzrückgänge. Die meisten Direktvertriebe stellen deshalb aktuell auf Online-Partys um und schulen ihr Personal entsprechend. Viele Anbieter gehen dabei sehr pragmatisch vor und bedienen sich einfacher Tools wie beispielsweise Facetime. Einige Player können hier bereits Erfolge verbuchen, was aber eher die Ausnahme ist.

Fehlende Kinderbetreuung auch hier ein Problem

Dies liegt an systematischen Problemen: Die wegge­brochenen Kinder­betreuungsangebote beschneiden die personellen Kapazitäten. Die Direktvertriebs­unter­nehmen verfügen in der Regel weder in der Up- noch in der Downline über ausreichende Kompetenzen im Bereich des Digital­vertriebs.

Der Erlebnischarakter, der die Verkaufspartys auszeichnet, kann online häufig (noch) nicht dargestellt werden. Bis jetzt wurden Augmented Reality und Virtual Reality insbesondere nur als Zukunftskonzepte mit Blick auf die Zielgruppen der „Digital Natives“ und der „Road Warriors“ diskutiert. Die Qualität der Lösungen in diesen Bereichen reicht aktuell noch nicht aus, um das „Event“ Verkaufsparty ausreichend emotional zu trans­portieren. Die entsprechenden Konzepte sind in vielen Unternehmen des Direktvertriebs auch noch nicht ausreichend konzipiert bzw. implementiert. Die Coronakrise wird hier sicherlich mittelfristig – ähnlich wie bei den Themen „Home Office“ oder „Video­conferencing“ – als Katalysator wirken; dies gilt umso mehr als die Generation Y/Z verstärkt in die Rolle von Beraterinnen/Beratern bzw. Führungskräften im Direkt­vertrieb hineinwächst.

Ein zusätzlicher Aspekt ist erwähnenswert: Normalerweise ist die Entwicklung im Bereich Endkundenmarketing derjenigen im Industriegütermarketing immer einige Zeit voraus – im Falle des elektronischen Social Selling könnte es umge­kehrt sein. Unternehmen des Geschäftskundenvertriebs verwenden Social Media wie Twitter und Facebook oder Geschäftsplattformen wie LinkedIn oder Xing schon seit Jahren professionell nicht nur für Social Media Marketing, sondern eben auch für Personal Branding, Social Prospecting, Employee Advocacy und Social Relationship Management. Der Endkunden­vertrieb fokussiert sich hier meist noch auf das Thema Lead Generation und geht dabei auch nicht durchweg systematisch vor.

Nach der Krise steigt das Potenzial für Social Selling

Mittels Social Selling kann sich das Vertriebspersonal in den Sozialen Medien als Expertin/Experte positionieren und so differenzieren (Personal Branding). Ein systematisches Screening der Sozialen Medien nach Signalen von Kunden­intentionen, Kaufabsicht oder möglichem Interesse basierend auf soziöko­nomischen Indikatoren oder wichtigen Lebensereignissen schafft Gesprächsanlässe (Social Prospecting). Employee Advocacy bedeutet das Posten von positiven Nachrichten, Geschichten und Erkennt­nissen über das Unternehmen. Dazu gehören auch die Beantwortung von Fragen, die Verbindung zu Branchen- oder Themenführern und die Verwen­dung von branchen- und unternehmensbezogenen Hashtags. Social Relationship Management legt Wert auf authentische Beziehungen und die direkte Interaktion mit allen relevanten Interessengruppen.

In Zukunft werden Unternehmen des Direktvertriebs die Möglichkeiten des Social Selling verstärkt realisieren. Social-Selling-Partys werden basierend auf Augmented- und Virtual Reality interessante Alternativen zu Offline-Verkaufspartys werden. Die Potenziale sind enorm. Internationale Erfahrungen (z. B. nach Ende der Finanzkrise in Spanien) zeigen zudem, dass viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nach Abklingen einer Krise eine Beschäftigung im Direktvertrieb als attraktiv ansehen, um flexibel etwas dazuzuverdienen.


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Titelbild: © iStockphoto/William_Potter