Digitale Lehre – Corona als Risiko und Chance. Ein Beitrag von Prof. Ertl

18 Juni 2020

Auch wenn inzwischen zunehmend Lockerungen der Corona-Maßnahmen stattfinden, planen viele Universitäten längerfristig mit reduzierten Präsenzveranstaltungen oder ausschließlich virtuellem Betrieb.

Ein Beitrag von Prof. Bernhard Ertl, Professur für Erziehungswissenschaft mit Schwerpunkt Lernen und Lehren mit Medien

Auch wenn inzwischen zunehmend Lockerungen der Corona-Maßnahmen stattfinden, planen viele Universitäten längerfristig mit reduzierten Präsenzveranstaltungen oder ausschließlichem virtuellen Betrieb, wie etwa die Universität Cambridge, die laut Spiegel schon für das nächste akademische Jahr auf digitale Lehre setzt. Allerdings geschah der Umstieg auf die digitale Lehre für viele Universitäten sehr spontan, was oft dazu führte, dass traditionelle Veranstaltungen nach Möglichkeit 1:1 ins Netz übertragen wurden – bisherige Vorlesungen wurden nun als digitale Vorlesungskonserven zur Verfügung gestellt oder live übertragen und Seminare als Videokonferenz in den virtuellen Raum verlegt. Viele Vorlesungskonserven sind bereits entstanden und schon werden erste Stimmen laut, dass durch diese Konserven das mit diversesten Aufgaben überlastete Hochschulpersonal in Zukunft entlastet werden könnte. Das erinnert in gewisser Weise an die Stimmung während der E-Learning Euphorie Anfang der 2000er Jahre, mit der die Hoffnung verbunden war, dass durch virtuelle Vorlesungen Wissensvermittlung sehr viel effizienter stattfinden kann. Allein – diese Hoffnungen wurden enttäuscht.

Reduktion der kognitiven Aktivität

Lernen ist ein selbstgesteuerter Prozess, der durch das Individuum durchzuführen ist. Gerade die kognitive Aktivität der Lernenden ist essentielle Voraussetzung dafür, dass neues Wissen sinnvoll und nachhaltig von den Lernenden in bestehende Wissensstrukturen integriert werden kann. Passiver Medienkonsum, insbesondere wenn es sich um die Übertragung 90-minütiger Vorlesungen handelt, befördern diese Aktivität nicht. Im Gegenteil: Die Wahrnehmung einer Lehrveranstaltung als „Medienkonsum“ verleitet zu anderweitiger Ablenkung. Dazu kommt ein Effekt, der bereits in den 80er-Jahren im Kontext von Lehrvideos untersucht wurde: Das Nachverfolgen einer filmischen Darbietung wird von den Lernenden als einfacher als das Lesen eines Testes empfunden und dadurch die kognitive Aktivität reduziert. Ein Effekt, der sich auch in geringeren Lernerfolgen niederschlägt. Im Gegensatz dazu leiden virtuelle Seminare unter denen im Zuge der Videokonferenz-Forschung schon lange festgestellten Einschränkungen in Gestik und Mimik, die zu deutlich strukturierteren Sprecherwechseln führen und somit die Interaktivität und Diskursivität der Seminarveranstaltungen unterbinden.

Feedback durch kurze Multiple-Choice-Wissenstests

Daher ist es bei der Übertragung von Lehre in die Virtualität wichtig, die spezifischen Chancen und Einschränkungen des jeweiligen Mediums zu berücksichtigen. Virtuelle Vorlesungen bieten auch Chancen, die sich in traditionellen Settings oft nicht realisieren lassen. Videostreams können pausiert und zurückgespult werden, was es erlaubt einzelnen Themenblöcke mit individuellen Aktivitäten für die Lernenden anzureichern. Im einfachsten Fall können kurze Multiple-Choice-Wissenstests den Lernenden Feedback geben, inwieweit die Einheit verstanden wurde oder wiederholt werden sollte, das kann aber auch bis hin zu Vertiefungsaufgaben und kooperativen Aufgabenstellungen reichen. Regelmäßige Pausen in den Videostreams mit Aufgaben zur Aktivierung der Lernenden können somit die Passivität der Lernenden, die oft auch in traditionellen Vorlesungen zu finden ist, durchbrechen und sich dadurch positiv aufs Lernen auswirken. Bei Seminaren kann die Videokonferenz durch ihre Strukturiertheit eine Veränderung tradierter Seminarrollen bewirken.

Lernende können viel leichter eigene Materialien über den Bildschirm mit der Seminargruppe teilen und dadurch die Diskussion stimulieren. Gerade Leitfragen auf dem geteilten Bildschirm können eine Diskussion deutlich nachhaltiger fokussieren als dies in Präsenz möglich wäre. Dies bedeutet allerdings, die Seminare entsprechend umzugestalten und gegebenenfalls Aufgaben und Diskussionsbeiträge vorab einzufordern.

Wenn die Potentiale digitaler Medien sinnvoll genutzt werden kann digitale Lehre eine attraktive Alternative zu traditionellen Lehrkonzepten darstellen. Dies ist jedoch nicht aufwandsneutral, sondern erfordert die Investition tradierte Lernformate mediengerecht aufzubereiten.


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