Corona & Versicherung: finanzieller Großschaden oder Marginalie?

22 Mai 2020

Ein Beitrag von Prof. Thomas Hartung, Professur für Versicherungswirtschaft

Bei kaum einem Großschadenereignis in der jüngeren Vergangenheit war die deutsche Versicherungswirtschaft anfangs so entspannt wie bei der aktuellen Covid-19-Pandemie. Dies lässt sich an einigen Bereichen verdeutlichen:

  • Für die privaten Krankenversicherer scheint Covid-19 finanziell tragbar. Einerseits sind nur ca. 10 % der Bevölkerung in der privaten Krankenversicherung voll- bzw. teilversichert, andererseits schlagen weder extrem teure, noch extrem langwierige Behandlungen übergebührlich ins Kontor.
  • In den Lebensversicherungsunternehmen lässt die Corona-bedingte Mortalitätsrate keine übermäßig ansteigende Nervosität aufkeimen, zumal vor allem diejenige Generation von Todesfällen betroffen ist, die aus Altersgründen nur mehr sporadisch eine laufende Lebensversicherung ihr eigen nennt.
  • Trotz des Nahezu-Stillstands des Reiseverkehrs ist auch die Reiseversicherung kaum tangiert, sind Kosten aufgrund von Pandemien dort weitgehend ausgeschlossen. Zudem muss die planmäßige Durchführung einer Reise unzumutbar sein, weil eine versicherte Person unmittelbar von einem versicherten Ereignis betroffen ist. Reine Quarantänemaßnahmen, Ansteckungsgefahren oder behördliche Ein- oder Ausreisebeschränkungen fallen regelmäßig nicht unter den Versicherungsschutz. Ab dem Moment des Aussprechens von Reisewarnungen seitens des Auswärtigen Amts sind ebenfalls Ausschlüsse vorgesehen.
  • In der Kraftfahrtversicherung werden inzwischen erste Prognosen veröffentlicht, wie stark die Reduktion des Verkehrs aufgrund der Ausgangsbeschränkungen die Unfallzahlen sinken lässt. Damit einher gehen deutlich geringere Schäden als kalkuliert. Hier belaufen sich Schätzungen auf mehr als 1 Mrd. € „ausbleibende“ Schäden.
  • In der Betriebsunterbrechungsversicherung, in der hohe Schadensummen auflaufen könnten, sind regelmäßig mit Sachschäden in Verbindung stehende Schäden versichert, aber eben keine Betriebsunterbrechung aufgrund von Quarantäne- oder „Lockdown“-Maßnahmen.
  • In der Kreditversicherung ist zwar mit hohen Schadenlasten zu rechnen, da in absehbarer Zeit Konkurse stark ansteigen dürften. Dort gelang es aber in Windeseile zusammen mit dem Bund einen Schutzschirm für Zahlungsausfälle in der Waren- kreditversicherung in Höhe von 30 Mrd. € zu schaffen, der bis Jahresende die Schadenzahlungen für die Versicherer bei 500 Mio. € deckelt. Dafür geben die Kreditversicherer 65 % ihrer diesjährigen Prämieneinnahmen an den Bund ab, was zwar zu Verlusten führen dürfte, aber eben beherrsch- und kalkulierbaren. Im Grunde ein gelungenes Beispiel einer Public-Private-Partnership.

Insgesamt gesehen scheint die Versicherungswirtschaft also mit einem „blauen Auge“ davonzukommen.

Dennoch gibt es Bereiche, in denen der Versicherungswirtschaft Ungemach droht. So sind die Folgen für die Werte, der von den Versicherern gehaltenen Kapitalanlagen noch unklar. Mit rund 1,7 Billionen € gehört die deutsche Versicherungswirtschaft zu den bedeutendsten institutionellen Investoren. Die Branche ist zwar nur gering in Aktien engagiert, aufgetretene Kursverluste bei Anleihen schlagen dafür um so heftiger zu Buche. Zudem ist nur grob abschätzbar, welche langfristigen Folgen die akute Geldpolitik der Zentralbanken sowie die zunehmenden Staatsverschuldungen für die Kapitalmärkte bewirken.

Veranstaltungsausfälle und Betriebsschliessungen

Ein Segment des Versicherungsmarktes dürfte höher als gewöhnlich in Anspruch genommen werden, die Veranstaltungsausfallversicherung. Für abgesagte bzw. verschobene Messen, Konzerte und Sportevents, inklusive der Olympischen Sommerspiele 2020 in Tokio und der Fußball-Europameisterschaft, fallen erhebliche Beträge an, die neben internationalen Versicherer-Konsortien vor allem die Rückversicherer spürbar belasten werden. Allerdings ist zu prüfen, inwieweit Pandemieereignisse in den Versicherungsbedingungen ausgeschlossen sind, was in vielen Fällen gegeben sein dürfte. In einem anderen Segment scheint die finanzielle Folge zwar hoch, aber dennoch beherrschbar, allerdings hat sich ein nicht unerhebliches Reputationsrisiko aufgetan. Im Moment scheint sie sich zu einem Lehrstück zu entwickeln, wie ein wichtiges Kriterium der Versicherbarkeit, nämlich die Eindeutigkeit der Versicherungsleistung, im Bedarfsfall unterschiedlicher Interpretation unterliegen kann. Die Betriebsschließungsversicherung ist vor allem im Lebensmittel-, Gaststätten- und Hotelbereich sowie im Gesundheitswesen vertreten und soll die wirtschaftlichen Schäden abfedern, wenn Betriebe wegen meldepflichtiger Infektionskrankheiten auf behördliche Anordnung geschlossen werden müssen.

Somit scheint Covid-19 der prädestinierte Leistungsfall. Die Schäden im Gaststätten- und Hotelbereich aufgrund der angeordneten Schließungen sind immens, etliche Betriebe stehen vor der Insolvenz. Daher wirkt die Betriebsschließungsversicherung wie ein Rettungsanker für diejenigen, die sie abgeschlossen haben (in Deutschland grob geschätzt 25.000 bis 40.000 Betriebe).

Entscheidend ist die exakte Formulierung

Allerdings kommt jetzt ein Umstand zum Zug, der Versicherung seit jeher als kompliziert und unnahbar erscheinen lässt, nämlich die exakte Formulierung der Versicherungsbedingungen. Schon immer waren diese geeignet, die öffentliche Wahrnehmung zu bestärken, dass Versicherung immer dann nicht hilft, wenn sie dringend gebraucht wird. Im jetzigen Fall entscheidet die exakte Formulierung, ob entschädigt wird, oder nicht. Letztlich hängt es davon ab, ob konkrete Krankheiten abschließend genannt werden oder ob eine Öffnung für „neue“ Krankheiten formuliert wurde. Ob dies der Fall ist, unterliegt bereits unterschiedlicher Interpretationen.

So lassen sich folgende Varianten an Formulierungen in Versicherungsbedingungen finden:

  1. a) die versicherten Krankheiten werden abschließend aufgezählt
  2. b) es gibt eine Aufzählung der versicherten Krankheiten, aber zusätzlich einen Verweis auf das Infektionsschutzgesetz und die darin gelisteten Krankheiten
  3. c) neben den aufgezählten Krankheiten existiert eine Öffnungsklausel, die nicht in den Bedingungen genannte Krankheiten mitversichert.

Offensichtlich führt Variante a) zum Ausschluss von Covid-19 veranlassten Schließungen, Variante c) erfasst diese hingegen. Bei Variante b) besteht Diskurs, da Covid-19 in den   §§ 6 und 7 des Infektionsschutzgesetzes (IfSG) nicht genannt ist, allerdings in der „Verordnung über die Ausdehnung der Meldepflicht nach § 6 Absatz 1 Satz 1 Nummer 1 und § 7 Absatz 1 Satz 1 des Infektionsschutzgesetzes auf Infektionen mit dem erstmals im Dezember 2019 in Wuhan/Volksrepublik China aufgetretenen neuartigen Coronavirus ("2019-nCoV")“ (CoronaVMeldeV) vom 30.1.2020.

Vermutlich werden aber erst Gerichtsurteile wirkliche Eindeutigkeit schaffen. Zu klären sein wird, inwiefern Verweise auf das Infektionsschutzgesetz auch „neue“ – möglicherweise nur temporär – meldepflichtige Krankheiten erfassen, die dann einen Versicherungsfall auslösen. Dazu wird die Intention hinter dem Abschluss des Versicherungsvertrags bzw. das Verständnis eines durchschnittlich verständigen Versicherungsnehmers – der Maßstab höchstrichterlicher Rechtsprechung – in Erfahrung zu bringen sein. Auch welche Zusagen von Seiten der Versicherungsvermittler getätigt wurden, wird Gegenstand der Interpretation sein.

Kompromisslösung für Betriebe in Bayern

Ein ebenfalls strittiger Punkt ist die Frage, inwieweit eine behördliche Anordnung zur Schließung aus generalpräventiven Gründen vom Versicherungsschutz erfasst ist. In den Bedingungen sind üblicherweise konkrete behördliche Anordnungen gegenüber einzelnen Betrieben, in denen Infektionen auftraten, als Schließungsgrund genannt. Zudem argumentieren einige Versicherer, es handele sich ja gar nicht um komplette Schließungen, da ja Abgabe und Lieferung von Speisen zulässig seien. Um den Imageschaden gering zu halten und politischem Druck zu begegnen, wurde in Bayern eine Kompromisslösung zwischen dem bayerischen Wirtschaftsministerium, dem Deutschen Hotel- und Gaststätten in Bayern, der Vereinigung der Bayrischen Wirtschaft und einigen Versicherern entwickelt. Demnach werden 10 bis 15 Prozent der vereinbarten Tagessätze von den Versicherern auf Kulanzbasis für maximal 30 Tage gezahlt. Dies betrage ungefähr die Hälfte der offenbleibenden Umsatzausfälle, wenn davon ausgegangen werden kann, dass ungefähr 70 % durch staatliche Soforthilfen und Kurzarbeitergeld kompensiert werden. Schätzungen sprechen von insgesamt 300 Millionen Euro Zahlungen durch die Versicherer.

Das Modell hat inzwischen Ausstrahlungswirkung auf andere Bundesländer entwickelt. Kritiker führen jedoch an, dass Soforthilfen im Wesentlichen als Kredit gewährt werden, also zurückgezahlt werden müssen. Außerdem betrage das Kurzarbeitergeld nur 60 % des üblichen Lohns. Die Versicherer begründen die Attraktivität ihres Angebots mit dem Verweis auf die nicht vorgesehene Anrechnung auf das Kurzarbeitergeld. Würde – möglicherweise erst Jahre später nach einem langwierigen Rechtsstreit – eine volle Versicherungsleistung ausbezahlt, müssten gewährte Staatshilfen und Kurzarbeitergeld wieder zurückgezahlt werden.

Forderungen nach einem Umdenken

Die bisherigen Ausschlüsse von Pandemien bei den meisten Versicherungsprodukten sowie die Höhe der gesamtwirtschaftlich angefallenen – und derzeit nur über massive Staatshilfen zu bewältigenden – Schäden führen zu Forderungen – sowohl aus der Versicherungsbranche als auch aus der Industrie – nach einem Umdenken: pandemiebedingte Schäden können zukünftig nur von der Versicherungswirtschaft und dem Staat gemeinsam bewältigt werden, beispielsweise in Form eines aufzulegenden Pandemie-Fonds. Auch Ideen für innovative Pandemie-Produkte und Versicherungsschutz für den Quarantänefall wurden bereits angedacht. Und eine weitere – positive – Auswirkung dürfte Covid-19 für die Versicherer noch mit sich bringen: der Drang, die digitale Transformation in den eigenen Geschäftsprozessen weiter voranzutreiben, dürfte zunehmen.


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