Leben in Balance: Bewegung in die Krise bringen

4 Februar 2021

Warum es jetzt gerade besonders wichtig ist sich zu bewegen, auch unter veränderten Gegebenheiten.

Ein Beitrag von Prof. Matthias Wagner, Institut für Sportwissenschaft (Forschungs- und Lehrgebiet Sportpsychologie)

Abstand halten, Hygiene beachten, Alltagsmaske tragen sowie regelmäßiges Lüften und die Corona-Warn-App nutzen (AHA+L+A). Dies ist die Formel, die uns in der aktuellen Pandemie begleitet. AHA+L+A ist dabei jedoch mehr als nur eine Kombination von Vorsorgemaßnahmen. AHA+L+A ist auch ein Sinnbild für die eingeschränkte Verfügbarkeit sozialer Ressourcen sowie für soziale Spannungen im Zuge der Gleichzeitigkeit von Familie und Beruf. Spätestens in der Pandemie wird deutlich, dass der Begriff der Work-Life-Balance durch den integrativen Begriff der Life-Balance ersetzt werden sollte. Wie aber kann die Life-Balance in Zeiten der Pandemie gelingen?

Ein Leben in Balance heißt: ein Leben in Bewegung

Balance halten bedeutet, fortlaufend in Bewegung befindliche Teilsysteme in ein dynamisches Gleichgewicht zu bringen. Ein Leben in Balance ist demnach ein Leben in Bewegung. Folgerichtig liegt die Chance zur Überwindung jedweder Dysbalance, also jedweder (Lebens-) Krise, so banal es klingen mag, (einzig) im sich bewegen. Doch wie sollen wir uns bewegen, wenn wir die Orte unseres gewohnten Bewegungshandelns wie Schwimmbäder, Fitnessstudios oder Sportvereine seit Monaten pandemiebedingt nicht betreten dürfen? Bietet uns diese Krise also überhaupt eine Chance uns aus ihr „herauszubewegen“?

Der Triathlon-Olympiasieger und dreifache Gewinner des Ironman Hawaii, Jan Frodeno, hat uns gezeigt, was es heißt flexibel auf veränderte Bewegungswelten zu reagieren. Seinen letzten Ironman absolvierte Frodeno in seinem Wohnzimmer und dem davor gelegenen Pool mit Gegenstromanlage; 3,8 Kilometer Schwimmen, 180 Kilometer Radfahren und 42,2 Kilometer Laufen; 8 Stunden und 30 Minuten Bewegung unter Einhaltung von AHA+L+A bei gleichzeitiger Interaktion mit einer Vielzahl von virtuell zugeschalteten „Konkurrenten“ und Chatpartnern aus der Welt des Sports. Vergleichbar zu AHA+L+A, so ist auch Frodenos Ironman@home mehr als nur die Kombination dreier Disziplinen. Er ist ein Sinnbild für die Plastizität der pandemischen Bewegungswelt und eröffnet uns als solches die Möglichkeit zur Reflexion unserer eigenen Bewegungspotentiale in der Krise.

Was z. B. steht dagegen, am Wochenende bzw. vor der abendlichen Ausgangssperre alleine oder mit der Familie Rad zu fahren, zu laufen oder einfach nur spazieren zu gehen? Warum sollten wir das Radfahren bei sportiveren Ambitionen nicht auch nach der Ausgangssperre über eine virtuelle Plattform auf der heimischen Rolle absolvieren und dabei neue Formen der sozialen Interaktion für uns entdecken? Was spricht dagegen einen Online Yoga-Kurs zu belegen und damit sowohl unsere körperliche als auch unsere geistige Beweglichkeit zu schulen? Warum sollten wir die Potentiale der teuren Smartwatch nicht gerade jetzt erkunden und uns mit unserem Bewegungs-, Ernährungs- und Schlafverhalten auseinandersetzen? Wie viele Schritte gehe ich pro Tag, wie viele Kilokalorien verbrenne ich dabei und wie oft wird mein Schlaf eigentlich durch längere Wachphasen unterbrochen? Dies alles sind Fragen, die von uns in der prä-pandemischen Rushhour wenn überhaupt nur zur Optimierung oder gar Maximierung unserer eigenen Life-Performanz adressiert wurden. Die digital gestützte Reflexion dieser Fragen kann jedoch auch und gerade in Zeiten der Pandemie als Basis einer achtsamen und prozessorientierten (Wieder-)Entdeckung der eigenen Beweglichkeit in einem umfassenden Sinne verstanden werden.

Erkunden Sie Ihre eigenen Bewegungsbedürfnisse

Anstelle der Frage, wo und wann wir Bewegung in einer Phase der räumlich-zeitlichen Konfusion überhaupt noch unterbringen können, sollten wir uns vielmehr die Frage stellen, wann wir jemals die Möglichkeit hatten unser Bewegungsverhalten vergleichbar autonom zu steuern. Wer die Krise als Ausrede für ein sich weniger bewegen verwendet, der läuft Gefahr in eben diese Krise weiter „hineinzuverharren“. Niemand verlangt dabei gerade in der Pandemie die Formulierung allzu hochgesteckter Bewegungsziele, wie die Bewältigung eines Ironman-Triathlons (schon gar nicht im eigenen Wohnzimmer). Vielmehr geht es darum, seine eigenen Bewegungsbedürfnisse zu erkunden, für sich bedeutungsvolle, herausfordernde aber gleichzeitig realistische Bewegungsziele zu formulieren und diese unter Berücksichtigung des individuellen Erlebens in der Pandemie und unter Einbeziehung der verfügbaren sozialen Ressourcen fortwährend auszubalancieren.

 

Bei weiterführendem Interesse an den Themen Bewegung, Gesundheit und Digitalisierung kann gerne Kontakt zu den Mitgliedern des Forschungs- und Lehrgebietes Sportpsychologie unter sportpsychologie@unibw.de aufgenommen werden.


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