Europäische Union – Das Hemd ist näher als der Rock

11 Dezember 2020

Der neu verhandelte EU-Haushalt hat ein Rekordvolumen, auch um die Kosten der Covid-19-Krise zu decken. Doch Gelder für die Entwicklungshilfe bleiben dabei auf der Strecke.

Ein Beitrag von Prof. Gertrud Buchenrieder, Professorin für Entwicklungsökonomie und -politik

Im zweiten Halbjahr 2020, während der deutschen Ratspräsidentschaft der Europäischen Union (EU) wurde der Haushalt 2021-27 verhandelt. Dieser Haushalt umfasst mit 1.703,4 Milliarden Euro ein neues Rekordvolumen. Darin enthalten ist auch ein 750 Milliarden Euro schweres Konjunkturpaket (Next Generation Europe) zur Überwindung der Covid-19-bedingten sozioökonomischen Krise im europäischen Binnenmarkt.

Bei aller Solidarität für die europäische Wirtschaft und Gesundheit, humanitäre und entwicklungspolitische Aspekte blieben im EU-Haushalt auf der Strecke. Deshalb wird Bundesentwicklungsminister Gerd Müller (CSU) auch nicht müde, die Kürzung des EU-Haushalts in den Kategorien Entwicklung, humanitäre Hilfe, Afrika-Politik und Fluchtursachen zu kritisieren. Die EU-Haushaltskürzungen für humanitäre Hilfe und Entwicklungszusammenarbeit bei gleichzeitigem Rekordhaushalt mit gigantischem Konjunkturpaket bestätigt wieder einmal die Redensart: Das Hemd ist mir näher als der Rock.

Covid-19-Krise, Klimawandel und Armut verstärken sich gegenseitig

Die EU-Haushaltskürzung für humanitäre Hilfe und Entwicklungszusammenarbeit kommt zur Unzeit, denn die Covid-19-Krise, Armut und der Klimawandel sind drei globale Krisen, die sich gegenseitig verstärken. Trotz der berechtigten Hoffnung sehr bald effektive Impfstoffe gegen Covid-19 zur Verfügung zu haben, Entwicklungsländer werden sicherlich zu den letzten zählen, die ausreichend Zugang zu Impfstoffen bekommen werden. Darüber hinaus scheint die Covid-19-Krise in der politischen Wahrnehmung die Klimakrise nach hinten gerückt zu haben. Maßnahmen, um die Covid-19-Pandemie unter Kontrolle zu halten, verstärken die Armut. Ausgangsbeschränkungen nehmen Menschen die Möglichkeit, Einkommen zu erwirtschaften. Vielfach hat sich die Pandemie auch negativ auf den Außenhandel ausgewirkt. Auch der Klimawandel verschlimmert die Armut, z. B. durch die häufiger auftretenden Extremwetterereignisse, wie Dürren und Überschwemmungen aufgrund von Starkregen. Gerade in Afrika waren es Dürren und Überschwemmungen, die in den letzten 30 Jahren die größten humanitären Auswirkungen hatten. Für die nächsten 80 Jahre werden in ganz Afrika vermehrt extreme Wetterereignisse in Form von Starkregen prognostiziert, die verheerende Überschwemmungen mit Verlust von Eigentum und Leben, Vertreibung und Störungen der landwirtschaftlichen Produktionsgrundlagen zur Folge haben werden.

Mehr Entwicklungshilfe oder bessere Regierungsführung?1

Manch einer wird nun sagen, die Entwicklungszusammenarbeit der letzten Jahrzehnte hat sowieso versagt. Diese Debatte wird auch in der Wissenschaft prominent durch Jeffrey D. Sachs und William Easterly geführt. Sachs argumentiert – zugegebenermaßen etwas verkürzt gesagt – mit dem Teufelskreis der Armut. Armut wird oft am Einkommen eines Menschen festgemacht. Menschen, die wenig oder nichts verdienen, können nicht sparen – sie benötigen ihr Einkommen, um ihre Grundbedürfnisse zu befriedigen. Wenn die nationale Ersparnisbildung fehlt, dann können weniger Investitionen getätigt werden, damit gibt es kaum Produktivitätsimpulse und damit bleibt das Einkommen niedrig – ein Teufelskreis. Wirtschaftswachstum kann diesen Teufelskreis durchbrechen, Impulse kann die Entwicklungszusammenarbeit bieten. Für Sachs steht fest: „Hat die Auslandshilfe ein ausreichendes Volumen und wird sie lange genug gewährt, dann wächst der Kapitalstock so weit an, dass er die Haushalte über das Existenzminimum hebt. In dem Moment ist der Ausbruch aus der Armutsfalle gelungen […]“.

Easterly konstatiert ebenso wie Sachs, dass Armut eines der aktuell größten globalen Probleme darstellt. Allerdings argumentier er, dass dem anhaltenden hohen Niveau an Einkommensarmut nicht das Fehlen an Mitteln bspw. in Form von Entwicklungshilfe zugrunde läge, sondern die schlechte Regierungsführung der betroffenen Länder einerseits und andererseits die vermeintliche Planbarkeit der Zielerreichung im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit. Die Ziele seien auch utopisch, als von einer vollständigen Armutsbekämpfung die Rede sei (Easterly, W. 2006. Wir retten die Welt zu Tode. Für ein professionelles Management im Kampf gegen die Armut. Frankfurt am Main: campus).

So ist aktuell das Ziel 1 der Globalen Agenda 2030 für Nachhaltige Entwicklung so überschrieben: Armut in jeder Form und überall beenden. Easterly ist der Überzeugung, dass Entwicklungsländer in der Lage sind, ihre Armut aus eigener Kraft zu überwinden. Grundvoraussetzungen seien dabei eine gute Regierungsführung. Er plädiert nicht für ein Aus der Entwicklungszusammenarbeit. Für ihn steht allerdings „[…] die Erfüllung der offensichtlichen Bedürfnisse der Armen durch Impfstoffe, Antibiotika, Nahrungsergänzungsmittel, verbessertes Saatgut, Düngemittel, Straßen, Bohrlöcher, Wasserleitungen, Schulbücher und Krankenschwestern“ im Mittelpunkt.

Damit schließt sich der Argumentationskreis. Gerade die Regierungen in Entwicklungsländern haben bisher sehr viel Umsicht in der Covid-19-Krise bewiesen. Viele Regierungen von Entwicklungsländern haben eine gute Regierungsführung an den Tag gelegt. Sie haben zum Wohle der globalen Gemeinschaft die Covid-19-Pandemie in ihren Ländern gebremst und dabei sozioökonomische Härten für ihre Bürgerinnen und Bürger sowie Volkswirtschaften in Kauf genommen. Die EU honoriert dies in ihrem neuen Haushalt nicht, im Gegenteil.

Hört beim Covid-19-Impfstoff die Nächstenliebe auf?

Die von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) ins Leben gerufene COVAX-Initiative (Covid-19 Vaccines Global Access) arbeitet daran, dass Impfstoffe für alle Länder zugänglich und bezahlbar sind. Die COVAX-Initiative soll bis Ende 2021 eine Milliarde Impfdosen an die über sechs Milliarden Menschen in Entwicklungsländern bereitstellen (Weltbevölkerung ca. 7,8 Milliarden Menschen). Da wohl zwei Impfungen nötig sein werden, um eine Immunität gegen Covid-19 aufzubauen, reichen die bisher vorgesehenen Impfdosen für Entwicklungsländer aus der COVAX-Initiative für etwa 500 Millionen Menschen. Die COVAX-Initiative wird u. a. durch die EU mit 500 Millionen Euro unterstützt. Die Weltbank unterstützt Entwicklungsländer ebenfalls darin, bis zu eine Milliarde Menschen gegen Covid-19 zu impfen. Doch während die Regierungen der Hocheinkommensländer, beispielsweise in der EU, bereits Lieferverträge mit den Unternehmen der Pharmabranche über eine umfassende Versorgung mit den künftigen, sicheren Covid-19-Impfstoffen geschlossen haben, stehen Entwicklungsländer am finanziellen Abgrund und können sich kaum selbst helfen. Auch die COVAX-Initiative beklagt eine Finanzierungslücke. Unter anderem deshalb appellierte der UN-Generalsekretär António Guterres während des virtuellen UN-Sondergipfels zur Covid-19-Krise (03-04.12.2020) für einen weltweiten fairen Zugang zu Impfstoffen. Auch die Bürgerinnen und Bürger der Entwicklungsländer brauchen ausreichend Zugang zu sicheren und wirksamen Covid-19-Impfungen, denn die Covid-19-Pandemie ist erst vorbei wenn alle Länder die Krise überwunden haben.


Hinweise auf die Arbeiten von Prof. Buchenrieder finden Sie hier >>


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Titelbild: © iStockphoto / Zerbor

 

1) Prof. Buchenrieder dankt Herrn Felix Wodtke für die inspirierenden Impulse, die er in seiner Sommermodularbeit-2020 zum Thema „Mehr Entwicklungshilfe oder gute Regierungsführung? Eine Analyse der kontroversen Sachs-Easterly- Debatte“ gegeben hat.