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   »Sei mal kurz ernst«, sagte er. »Das Einmaleins musst du einfach auswendig lernen.« Er schrieb 12 x 12 = 144 in den Sand, aber sie rannte an ihm vorbei, tauchte durch die rauschende Brandung hinunter in ruhiges Wasser und schwamm, bis er ihr dorthin folgte, wo graublaue Lichtstrahlen schräg durch die Stille drangen und ihre Körper beleuchteten. Glatt und glänzend wie Tümmler. Später, sandig und salzig, rollten sie über den Strand, eng umschlungen, als wären sie eins.
   Am nächsten Nachmittag kam er in die Lagune gefahren, blieb aber in seinem Boot sitzen, nachdem es auf den Strand aufgelaufen war. Ein großer Korb mit einem rot karierten Tuch darüber stand zu seinen Füßen.
   »Was is das? Was hast du mitgebracht?«, fragte sie.
   »Eine Überraschung. Komm, steig ein.«

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Kya wusste es nicht, aber Tate war zurückgekommen.
   Einen Tag bevor er mit dem Bus zum vierten Juli nach Hause fahren wollte, war Professor Blum, der ihm den Job verschafft hatte, ins Protozoologie-Labor gekommen und hatte ihn gefragt, ob er sich einigen renommierten Ökologen anschließen wollte, die übers Wochenende eine Exkursion zur Beobachtung der Vogelwelt planten.
   »Mir ist Ihr Interesse an Ornithologie aufgefallen, und ich denke, das wäre was für Sie. Es gibt nur Platz für einen einzigen Studenten, und da habe ich gleich an Sie gedacht.«
   »Ja, unbedingt. Sehr gern.« Nachdem Professor Blum wieder gegangen war, stand Tate da, allein, umgeben von Labortischen, Mikroskopen und dem summenden Autoklav, und fragte sich, wie er so schnell hatte einknicken können. Was ihn getrieben hatte, gleich die erste Gelegenheit zu nutzen, um seinen Professor zu beeindrucken. Der Stolz, weil die Auswahl auf ihn gefallen war, weil er als einziger Student mitfahren durfte.
   Die nächste Möglichkeit, nach Hause zu fahren - und das auch nur für eine Nacht —, hatte sich fünfzehn Tage später ergeben. Er wollte sich unbedingt bei Kya entschuldigen, die bestimmt Verständnis haben würde, wenn er ihr von Professor Blums Einladung erzählte.  

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   In der Mitte der Lichtung stand ein halb verrotteter Baumstumpf, der so dicht mit Moos überwuchert war, dass er aussah, als würde sich ein alter Mann unter einem Umhang verbergen. Als Kya schon fast daran vorbei war, blieb sie stehen. Eine dünne schwarze Feder, gut zwölf Zentimeter lang, steckte aufrecht darin. Die meisten hätten sie für nichts Besonderes gehalten, vielleicht für die Schwungfeder einer Krähe. Aber Kya wusste, dass sie etwas ganz Außergewöhnliches war, nämlich die »Augenbraue« eines Kanadareihers, die Feder, die sich anmutig von oberhalb des Auges bis hinter den eleganten Kopf wölbt. Eines der erlesensten Fundstücke der KÜstenmarsch und dann hier auf ihrer Lichtung. Sie hatte noch nie eine gefunden, wusste aber sofort, was es war, weil sie schon ihr ganzes Leben lang Reiher beobachtete.
   Ein Kanadareiher hat die Farbe von grauem Nebel, der sich in blauem Wasser spiegelt. Und genau wie Nebel kann er mit dem Hintergrund verschmelzen, sodass nichts mehr von ihm zu sehen ist außer den konzentrischen Kreisen seiner starren Augen. Er ist ein geduldiger, einsamer Jäger, der allein und still dasteht, bis er sein Opfer packt. Oder aber er bewegt sich, wenn er seine Beute erspäht hat, mit extrem langsamen Schritten daraufzu wie eine räuberische Braut zum Altar. Und doch jagt er gelegentlich auch im Fliegen, schießt durch die Luft und taucht jäh herab, den schwertspitzen Schnabel voraus.
   »Wieso steckt die denn so kerzengerade da drin?«, flüsterte Kya und blickte sich um. »Die muss der Junge da hingetan haben. Vielleicht beobachtet der mich jetzt.« Sie stand reglos da, und wieder raste ihr Herz. Dann wich sie zurück, ließ die Feder, wo sie war, und rannte zur Hütte. Sie verriegelte die Fliegengittertür, was sie praktisch nie tat, weil sie ohnehin nur wenig Schutz bot.
   Doch sobald das erste Morgenlicht zwischen die Bäume kroch, spürte sie den starken Drang, zu der Feder zurückzukehren, um sie sich wenigstens noch einmal anzusehen. Bei sonnenaufgang lief sie zur Lichtung. Sie sah sich vorsichtig um, ging dann zu dem Baumstumpf und zog die Feder heraus. Sie war glatt, fast seidig. Wieder zurück in der Hütte, gab sie ihr einen Ehrenplatz in der Mitte ihrer Sammlung - von winzigen Kolibrifederchen bis zu den großen Schwanzfedern von Adlern -, die sich über die Wand schwang. Sie fragte sich, warum ein Junge ihr eine Feder bringen sollte.


Am nächsten Morgen wollte Kya zu dem Baumstumpf rennen, um nachzusehen, ob wieder eine Feder dort steckte, aber sie zwang sich zu warten. Sie durfte dem Jungen nicht über den Weg laufen. Schließlich, kurz vor Mittag, ging sie zur Lichtung, näherte sich ihr langsam, lauschte. Sie hörte und sah niemanden, also trat sie aus der Deckung, und ein seltenes kurzes Lächeln erhellte ihr Gesicht, als sie eine dünne weiße Feder in dem Stumpf stecken sah. Sie reichte ihr von den Fingerspitzen bis zum Ellbogen, war elegant geschwungen und lief in einer schlanken Spitze aus. Kya nahm sie und lachte laut auf. Die prächtige Schwanzfeder eines Tropikvogels. Sie hatte diese Seevögel noch nie gesehen, weil sie in ihrer Gegend nicht vorkamen, aber hin und wieder wurden sie auf Hurrikanflügeln übers Festland geweht.
   Kyas Herz füllte sich mit Staunen, weil jemand offenbar eine so große Sammlung von seltenen Federn besaß, dass er diese hier erübrigen konnte.

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   »Haben Sie irgendwelche Beweise dafür, dass Miss Clark auf dem Fußweg zum Turm gelaufen ist, Sheriff?«
   »Nein. Aber es ist eine gute Theorie.«
   »Theorie!« Tom wandte sich an die Geschworenen. »Sie hatten genug Zeit für Theorien, bevor Sie Miss Clark verhaftet haben, bevor Sie sie zwei Monate im Gefängnis festhielten. Tatsache ist, Sie können nicht beweisen, dass Sie den Fußweg genommen hat, und die Zeit hätte nicht ausgereicht, um mit dem Boot zum Turm zu fahren. Keine weiteren Fragen.«

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   Tate arbeitete weiter in dem Forschungslabor, und Kya veröffentlichte noch sieben weitere preisgekrönte Bücher. Und obwohl ihr viele Auszeichnungen verliehen wurden — einschließlich der Ehrendoktorwürde von der University of North Carolina in Chapel Hill —, lehnte sie sämtliche Einladungen ab, in Universitäten und Museen Vorträge zu halten.
Tate und Kya hätten gern eine Familie gegründet, blieben aber kinderlos. Die Enttäuschung band sie noch enger aneinander, und sie waren selten länger als ein paar Stunden am Tag voneinander getrennt. 

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Vielleicht war es normal so.
   Chase stand vom Tisch auf, hob ihr Kinn mit den Fingern an, küsste sie und sagte: »In den nächsten paar Tagen kann ich nicht so oft rauskommen, wegen Weihnachten und so. Da ist Immer viel los, und ein paar Verwandte kommen zu Besuch.«
   Kya sah ihn an. »Ich hab gehofft, ich könnte vielleicht dabei sein . . . wenn ihr feiert und so. Wenigstens beim Weihnachtsessen mit deiner Familie.«
   Chase setzte sich wieder hin. »Kya, hör mal, ich will schon die ganze Zeit mit dir darüber reden. Ich würde ja ger mit dir zum Tanz im Elk Club gehen zum Beispiel, aber ich wei , vie scheu du bist und dass du praktisch nie in die Stadt kommst.
Ich weiß, du wärst kreuzunglücklich da. Du würdest niemanden kennen, du hast nicht die richtigen Sachen zum Anziehen. Kannst du überhaupt tanzen? Das passt alles nicht zu dir. Das verstehst du doch, oder?«
   Sie schaute zu Boden. »Ja, und du hast ja recht. Aber, na ja, ich muss doch irgendwann anfangen, mich an dein Leben anzupassen. Meine Flügel ausbreiten, wie du gesagt hast. Ich meine, ich muss mir die richtigen Anziehsachen besorgen, deine Freunde kennenlernen.« Sie hob den Kopf. »Du könntest mir Tanzen beibringen.«
   »Ja klar, und das werde ich auch. Aber für mich ist wichtig, was wir hier draußen haben. Ich liebe unsere gemeinsame Zeit, nur du und ich. Ehrlich gesagt, diese ganzen dummen Partys öden mich allmählich an. Ist doch immer dasselbe. In der Schulturnhalle. Die Alten und die Jungen, alle zusammen. Dieselbe blöde Musik.

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Buchcover "Der Gesang der Flusskrebse"

 

aus

Delia Owens: Der Gesang der Flusskrebse
Wilhelm Heyne Verlag München, 2020

 

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