Wissen ist Macht: Prof. Eva-Maria Kern diskutiert über Wissenskultur

27 Juli 2020

Die Corona-Pandemie hat es gezeigt: In Deutschland herrscht Nachholbedarf bei der Digitalisierung. Wissen ist zwar leichter verfügbar als je zuvor. Doch durch die Schnelllebigkeit der heutigen Zeit veraltet das Wissen auch immer schneller. Die vergangenen Monate haben zum Umdenken gezwungen: An welchen Stellschrauben muss gedreht werden, dass die Digitalisierung gelingt? Und wie kann die Wissenskultur an Hochschulen oder in Unternehmen bestmöglich vermittelt werden?

Gemeinsam mit vier weiteren Vertreterinnen und Vertretern aus Wissenschaft und Wirtschaft setzte sich Prof. Eva-Maria Kern, Vizepräsidentin für Forschung an der Universität der Bundeswehr München, am Runden Tisch des Verlags der Süddeutschen Zeitung zusammen. Sie diskutierten über das Thema Wissenskultur. Moderiert wurde die Diskussion von Marlene Weiß, die seit 2014 Redakteurin im Ressort Wissen mit Schwerpunkt Umwelt, Geowissenschaften und Physik ist. Neben Prof. Kern beteiligten sich Tiberius Dacher, Gründer und Geschäftsführer der Softwareschmiede Dacher Systems GmbH, Prof. Andreas Kaplan, Rektor der ESCP Wirtschaftshochschule, Prof. Claudia Peus, Gründungsdirektorin des Institute for Life Long Learning der TU München und Jürgen Schulze-Seeger, Mitgründer der Coaching-, Training- und Consulting-Agentur BRIDGEHOUSE, am Gespräch.

Wissenskultur an Hochschulen

Die Diskussion gliederte sich in drei Themenbereiche. Im ersten Teil ging es um die Wissenskultur an Hochschulen. Diese ist für Prof. Kern die Basis für Forschung und Entwicklung, „weil man sowohl in der Lage als auch willens sein muss, bestehendes Wissen aufzugreifen, zu hinterfragen, weiterzuentwickeln und natürlich neues Wissen zu generieren.“ Nicht zu vernachlässigen ist für sie in diesem Zusammenhang jedoch auch die Frage des Vergessens. Damit gemeint ist, „früheres Wissen, das überholt ist, zurückzulassen, um nicht in seinen Denkwegen gestört zu werden.“ Für Jürgen Schulze-Seeger ist außerdem entscheidend, dass der enge Rahmen mancher universitären Einrichtungen, wie beispielsweise das strikte Unterteilen in Fakultäten, gelockert werden sollte, um Wissenskultur zu fördern. Heißt die Kollaboration verschiedener Fachrichtungen, die es ermöglicht, über den Tellerrand des eigenen Faches oder Metiers zu schauen. Auch ein praxisnäheres Lernen sollte gefördert werden, damit Studierende bereits heute spezifischer lernen, welches Wissen in ihren späteren Berufen nötig ist.

Probleme der Wissensgesellschaft

Im zweiten Teil der Diskussion kommen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer auf Probleme der Wissensgesellschaft zu sprechen. Das Credo aller lautet hierbei: Wissensvermittlung muss individueller werden. Nicht alle können oder wollen nur theoriebezogen lernen. Genauso ist es nicht für jede und jeden der richtige Weg, lediglich praktische Fälle durchzuarbeiten ohne vorher die dahinterliegende Theorie zu kennen. Ein Problem in der Praxis spricht Tiberius Dacher an: Er hat den Eindruck, dass Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Probleme häufig nicht mehr mithilfe ihrer Kolleginnen und Kollegen lösen wollen, sondern das Internet zur Problembehebung herbeiziehen: „Die Leute lesen teils stundenlang, anstatt einen Kollegen oder Experten anzurufen, der ihnen die Frage vielleicht in wenigen Minuten beantworten könnte.“ Auch Prof. Kern sieht eine Gefahr darin, dass oft nur noch im Internet nach Wissen gesucht wird, weil es dort „vermeintlich im Überfluss“ zu finden ist. Sie gibt zu bedenken: „Man liest etwas im Internet und hält sich für einen Kenner der Materie. Natürlich sollte man sich selbst informieren, daran ist zunächst nichts verkehrt. Aber die Vorstellung, man könne ohne jedes Vorwissen ein fachliches Problem selbst lösen, halte ich für absurd.“ Sie sieht es als eine Herausforderung unserer Zeit, die angemessene Wahrnehmung und Wertschätzung für das Fachwissen wieder zu etablieren. Denn so könne das Bewusstsein dafür geschärft werden, dass man etwas wissen muss, um Fakten adäquat beurteilen zu können.

Prof. Eva-Maria Kern während der Diskussionsrunde

Prof. Eva-Maria Kern am Runden Tisch der Süddeutschen Zeitung (Bildquelle: © Süddeutsche Zeitung)

Wissensmanagement in Unternehmen

Abschließend stand das Wissensmanagement in Unternehmen im Mittelpunkt. Für Prof. Kern ist es hier entscheidend, in Unternehmen ein prozessorientiertes Wissensmanagement aufzusetzen und Rahmenbedingungen für den Wissensaustausch zu schaffen. Ohne Wissen und Erfahrung könne nichts Neues hergestellt werden. „In einem Umfeld, in dem ich Wissen benötige, entsteht bei einigen Mitarbeitern der innere Antrieb, sich neue Kenntnisse von anderen anzueignen. Das wiederum fördert die Bereitschaft, auch eigenes Wissen weiterzugeben.“ Prof. Claudia Peus spricht in diesem Zusammenhang jedoch auch das Phänomen des „Knowledge Hiding“an, also das bewusste Zurückhalten von Wissen durch Mitarbeiter, die von ihren Kollegen nach etwas gefragt werden. Studien belegen, dass der wesentliche Grund dafür heute noch immer auf der organisationalen Ebene liegt – nämlich bei den Vergütungs- und Beförderungssystemen. „Solange die Leistung der einzelnen Mitarbeiter miteinander verglichen wird und über Gehalt und Karrierechancen entscheidet, werden sie ihr Wissen im Zweifelsfall für sich behalten“, so Peus. Kern ergänzt hier, dass Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die Lehrgänge oder Schulungen absolvieren, anschließend auch die Möglichkeit gegeben werden muss, ihr neues Wissen anzuwenden. Auch wenn dies Veränderungen in ihren Einsatzgebieten oder in ihrer Besoldung mit sich bringen sollte.

Zum Abschluss fragte Moderatorin Marlene Weiß, wie sich die Wissenskultur künftig weiter entwickeln wird. Vor allem im Hinblick auf die Veränderungen durch die Corona-Pandemie, also beispielsweise das vermehrte Homeoffice. „Die Corona-Situation ist eine Herausforderung, sie verdeutlicht uns aber auch den großen Wert von persönlicher Kommunikation für den Wissensaustausch“, so Kern. Für sie ist es entscheidend, künftig Präsenzveranstaltungen vor Ort mit virtuellen Tools sinnvoll zu kombinieren. Denn: „Welche enormen Freiheiten wir bislang nicht nur in der Forschung, sondern auch in der Gesellschaft als selbstverständlich betrachtet haben, wird uns erst jetzt so richtig bewusst.“


Titelbild: Der Runde Tisch mit den Diskutierenden (© Süddeutsche Zeitung)