Die USA vor einer der größten Aufgaben ihrer Geschichte

22 Januar 2021

Nach der Amtseinführung des neuen US-Präsidenten Joe Biden am 20. Januar 2021 stehen die USA vor der Herausforderung, die blau-rote Polarisierung zu überwinden. Politikwissenschaftlerin Prof. Ursula Münch blickt auf die politische und gesellschaftliche Lage in den USA.

Ein Beitrag von Prof. Dr. Ursula Münch, Professorin für Politikwissenschaft an der Fakultät für Staats- und Sozialwissenschaften (derzeit beurlaubt); Direktorin der Akademie für Politische Bildung, Tutzing

„America is not the greatest country in the world anymore“. In der US-Fernsehserie „The Newsroom“ aus dem Jahr 2012 bringt dieses öffentliches Bekenntnis den Protagonisten der Serie, den prominenten Nachrichtensprecher eines fiktiven Kabelsenders, erheblich in Bedrängnis. Seiner immer noch sehenswerten Aufzählung der vielen Gründe, warum Amerika nicht mehr das beste Land der Welt sei, setzt dieser Will McAvoy die Erinnerung entgegen, dass es eine Zeit gegeben habe, in der „we didn’t identify ourselves by who we voted for in the last election“. Tatsächlich ist es schon einige Zeit her, dass nicht ihre Anhänger- oder Gegnerschaft zum jeweiligen Präsidenten und seiner Partei die Identität vieler US-Amerikaner prägte, sondern die Mischung aus sich überlappenden Zugehörigkeiten: Beruf, Wohnort, bevorzugtes Footballteam, Familienstand, Religion oder auch Herkunft der Vorfahren waren für das eigene Selbstverständnis wichtiger als die Frage, welchem Kandidaten man bei der Präsidentschaftswahl seine Stimme gegeben hat und welchem Fernsehkanal man vertraut.

Polarisierung mit Vorgeschichte

Diese Polarisierung der amerikanischen Gesellschaft irritiert umso mehr, als die USA noch in den 1960er Jahren als Land „ohne Ideologien“ galten. Die aktuelle Unversöhnlichkeit der politischen Lager in den USA hat eine lange Vorgeschichte, in der die Rassenfrage eine größere Rolle spielt als man in Europa angesichts der Begeisterung für den angeblichen US-amerikanischen „melting pot“ lange Zeit glauben wollte. Es wäre also falsch, die Präsidentschaft Trumps für diese Spalttendenzen ursächlich verantwortlich zu machen: Seine Wahl und die gewalttätigen Begleiterscheinungen seiner Abwahl sind vor allem die Symptome und nicht die Ursachen der gesellschaftlichen Polarisierung. Richtig ist aber, dass Donald Trump vom Auseinanderdriften der Lager erheblich profitierte und es mit seiner populistischen und digital verstärkten Rhetorik gezielt schürte. Nicht zuletzt war es ihm gelungen, die „Großen Transformationen“, also den Klimawandel, die Globalisierung, die Digitalisierung und den demografischen Wandel, also den Umstand, dass die Weißen demnächst nur noch eine von mehreren Minderheiten in der amerikanischen Gesellschaft sein werden, für politische sowie persönliche Zwecke zu instrumentalisieren.

Das Fehlen einer ausgewogenen Medienlandschaft 

Ca. 90 % der Europäer, aber eben nur ungefähr 25 % der Anhänger der US-republikanischen Partei sind Umfragen zufolge erleichtert über die neue Führung in den USA. Auch vor diesem Hintergrund dürfte die Überwindung der Spaltung der US-amerikanischen Gesellschaft eine Aufgabe für mehrere Generationen sein. Von Empathie und Handlungskraft zeugende präsidiale Worte und Reden wirken angesichts ichbezogener und nationalistischer Gehässigkeiten der vergangenen Wochen, Monate und Jahre zwar wohltuend – ausreichen werden sie aber nicht. Schließlich kommen die auf Versöhnung ausgerichteten Botschaften des neuen US-Präsidenten Joe Biden und seiner Vizepräsidentin Kamala Harris bei den Anhängern des „Trumpismus“ gar nicht an: Die Verzerrungen in der US-amerikanischen Medienlandschaft sind immens und für Europäer kaum vorstellbar. Dazu trug die Absage an die „Fairness Doctrine“ bei, die bis in die 1980er Jahre für eine ausgewogene Berichterstattung der großen Networks sorgte, aber auch das Zeitungs- und Sendersterben auf lokaler und regionaler Ebene. In Kombination mit dem Geschäftsmodell und der Funktionsweise der digitalen Netzwerke zogen diese schleichend daherkommenden Entwicklungen die demokratiegefährdende Abkapselung in Teilöffentlichkeiten nach sich.

Worte und Taten

Nur wenn die Politik der neuen Regierung auch in den Gegenden ankommt, in denen die meisten Modernisierungsverlierer leben, besteht die Chance, die tiefen Gräben zwischen dem vermeintlichen „Establishment“ und den angeblichen „Deplorables (den Beklagenswerten)“ (Hillary Clinton) wenigstens etwas einzuebnen. Der Zulauf zu Trump zeigt, dass die Ängste und die Wut diese Menschen dazu verleitet, höchst risikoreichen politischen Botschaften und Verheißungen zu folgen. Damit sich ihre Wahrnehmung von Politik und Staatlichkeit entradikalisiert, benötigen sie für sich und ihre Kinder konkrete Perspektiven, die es ihnen erlauben, sich nicht länger als Opfer der großen Transformationen zu fühlen. Zweifelsohne: Ein Präsident kann die großen Veränderungen der amerikanischen Wirtschaft, Gesellschaft und Lebensweise nicht aufhalten, aber er muss glaubhaft machen, dass diese so gestaltbar sind, dass alle gesellschaftlichen Gruppen ihre Folgen bewältigen können.

Infrastruktur- und Bildungspolitik „first“

Es entspricht US-amerikanischem Denken, weniger auf den helfenden als auf den zur Eigeninitiative befähigenden Staat zu setzen. Unumstritten ist dies auch im US-Kongress jedoch nicht: Präsident Biden muss also nicht nur Teile der republikanischen Partei, sondern vor allem auch den linken Flügel seiner demokratischen Partei auf die Seite der politischen Mäßigung ziehen. Das wird auf jeden Fall mühsam, aber für die Steuerzahler auch teuer werden: Schließlich geht es neben Maßnahmen zur Bewältigung der sozialen und gesundheitlichen Verwerfungen infolge der Corona- sowie der Opioidkrise vor allem darum, den globalisierungsbedingten Wandel von einer Industrie- hin zur digitalisierten Dienstleistungsgesellschaft zu gestalten. Neben Infrastrukturmaßnahmen, die vor allem in den ländlichen Regionen und dem früheren „Rost Belt“ ankommen müssen, wäre eine weitreichende Reform des ausgrenzenden amerikanischen Bildungssystems erforderlich. Auf diesem Gebiet sind Präsident und Kongress aber auf die Einzelstaaten und vor allem die Kommunen angewiesen, von denen viele bereits jetzt große finanzielle Lasten zu tragen haben. 

Regulierung und Einhegung der Online-Plattformen

Geld und Maßnahmenpakete werden angesichts der spalterischen Wirkung der digitalen Netzwerke und Plattformen jedoch nicht genügen. Amanda Gormans Gedicht bei der Inauguration liefert Stichworte für eine neue Erzählung des „American Dream“, Es geht um Einigkeit, aber nicht von Gleichen, sondern von Verschiedenen. Damit es gelingen kann, eine neue „Storyline“ populär zu machen, also ein sowohl (verfassungs-)geschichtsbewusstes als auch zukunftsgewandtes „Narrativ“, müssen die Treiber digital verbreiteten Hasses und Falschinformationen regulatorisch eingehegt werden. Eine Aufgabe, die auch auf unserer Seite des Atlantiks angegangen werden muss.


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