Die Bundestagswahl 2021 und der Kampf um das Kanzleramt

30 August 2021

Ein Interview mit Prof. Dr. Ursula Münch, Professorin für Politikwissenschaft an der Fakultät für Staats- und Sozialwissenschaften (derzeit beurlaubt); Direktorin der Akademie für Politische Bildung, Tutzing, zur aktuellen Lage kurz vor der Bundestagswahl.


Prof. Münch, die Union befindet sich zurzeit in einer schwierigen Situation, der Vorsprung in den Umfragewerten schmilzt, der Kanzlerkandidat verliert mehr und mehr an Zustimmung. Was sind Ihrer Meinung nach die Gründe?

Prof. Münch: Da kommt so einiges zusammen. Bereits der Wettbewerb um die Kanzlerkandidatur der Union hat dem CDU-Vorsitzenden geschadet. So hat sein Konkurrent von der CSU der Öffentlichkeit den Eindruck vermittelt, dass Armin Laschet diesen Sieg nicht seinen Fähigkeiten, sondern nur der Disziplin seiner Parteigremien zu verdanken habe. Das bleibt an Laschet kleben. Markus Söders Mahnungen, die CDU und Laschet sollten einen anderen – einen besseren – Wahlkampf führen, sind zwar nachvollziehbar. Aber am kritisierten Tatbestand ändert die Ermahnung, man müsse endlich einen „vernünftigen Wahlkampf“ führen, nichts. Gleichzeitig bietet sein Sticheln immer wieder den Medien Anlass, über die Zerrissenheit der Unionsparteien zu berichten. Im Vergleich hierzu liefert die SPD ein deutlich besseres, nämlich geschlossenes, Bild ab. Laschet fehlt es neben dem Rückhalt in den eigenen Reihen insgesamt an Fortune, und dieses Defizit trifft auf die Unbarmherzigkeit der „vernetzten Vielen“. Jeder einzelne gemachte Fehler war nicht gravierend, aber in der Summe sind sie ein Debakel.


In der Union wird wenige Wochen vor der Wahl nun sogar von einem Austausch des Spitzenkandidaten gesprochen. Halten Sie das für realistisch?

Prof. Münch: Das ist eine zwar nachvollziehbare, aber völlig unrealistische Reaktion auf die schlechten Werte der Union zum einen und des Kandidaten zum anderen. Ich sehe gar nicht, welche positiven Wirkungen das hervorrufen sollte: Natürlich hat Herr Söder als verhinderter „Kanzlerkandidat der Herzen“ (so CSU-Generalsekretär Markus Blume) ein besseres Image. Aber man sollte nicht übersehen, dass der CSU-Vorsitzende in manchen Regionen Deutschlands ebenfalls seine Schwierigkeiten hätte. Es gibt nicht nur Söder-Fans innerhalb der Union. Ein solcher Schritt wäre ohnehin nur dann möglich, wenn Laschet von sich aus zurückziehen würde, etwa mit der einleuchtenden Begründung, dass das Land NRW, in dem am 15. Mai 2022 der Landtag gewählt wird, nach der großen Flutkatastrophe seinen Ministerpräsidenten voll und ganz für den Wiederaufbau benötigt. Aber das wird Laschet nicht tun: denn er möchte Kanzler werden. Wenn es nicht so wäre, hätte er sich die zehn Tage der Auseinandersetzung mit Söder sparen können.


Die Hochwasserkatastrophe und die dramatische Lage in Afghanistan haben den Wahlkampf stark beeinflusst. Dabei hat sich gezeigt, dass der richtige Umgang mit Krisen vor einer Wahl besonders wichtig ist. Verhielten sich die Spitzenkandidaten der Parteien hier zu passiv?

Prof. Münch: Das sog. „Image“ von Spitzenkandidaten setzt sich aus vier Faktoren zusammen: erstens der persönlichen Integrität, also der Ehrlichkeit und Vertrauenswürdigkeit, zweitens der fachlichen Kompetenz, drittens den „Leadership-Qualitäten“, also der Fähigkeit sich durchzusetzen und Orientierung zu geben, aber auch Kompromisse zu schließen und viertens äußeren und damit unpolitischen Merkmalen wie physische Attraktivität und allgemein Habitus.

Anlässlich der Auftritte der beiden Spitzenkandidaten sowie der Kandidatin der Grünen bei der Flutkatastrophe konnten in allen vier Rubriken Fehler gemacht, aber auch Ansehen erworben werden. Baerbock hat sich extrem zurückgehalten – nicht nur, weil sie kein Regierungsamt ausübt, sondern auch weil sie und ihre Berater angesichts der vorangegangenen Vorwürfe übervorsichtig geworden sind. Laschet hätte sich besser noch mehr zurückgehalten und mehr Gespür für die Bedeutung von Integrität und Habitus beweisen müssen. Was er an dieser Stelle falsch gemacht hat, ist schwer zu reparieren – auch wenn er ansonsten als Landesvater die richtigen Schritte eingeleitet hat. Olaf Scholz scheint dagegen zumindest bei der Flutkatastrophe alles richtig gemacht zu haben: Er hat den Eindruck des besonnenen Zuhörers mit Überblick und Hilfsgeldern vermittelt – das hat sein Image als souveräner Krisenmanager sehr befördert.

Dass zu den reichlich vorhandenen Krisen (Corona, Flutkatastrophe, Klimaerwärmung) nun auch das Afghanistan-Debakel dazu kommt, zeigt uns, wie riesig die zu lösenden Aufgaben sind. Die schnelle Häufung großer Krisen rückt die Bedeutung der Faktoren Integrität und Führungsqualitäten noch weiter nach vorn. Den meisten Beobachtern ging – neben dem Ärger und Unverständnis über das Verhalten der Bundesregierung gegenüber den Ortskräften – sicherlich die Frage durch den Kopf, wer von den drei Kandidaten eine der künftigen Krisen am besten meistern könnte. Und obwohl Scholz als amtierender Vizebundeskanzler aktuell für das Debakel mit in der Verantwortung steht, profitiert er gleichzeitig davon, genau in diesem Amt bereits Erfahrung gesammelt zu haben. Aufschlussreich ist auch, dass die amtierende Bundeskanzlerin durch die Afghanistan-Krise an Ansehen verliert: Womöglich sind die Fußstapfen ja doch gar nicht so groß.


Bis jetzt hatte man das Gefühl, dass die Kanzlerkandidatin und -kandidaten vor allem möglichst wenig Angriffsfläche für den politischen Gegner bieten wollen und daher die großen Wahlkampfthemen ins Hintertreffen geraten sind. Wird sich das in den verbleibenden Wochen noch ändern?

Prof. Münch: Davon gehe ich aus. Natürlich werden die Kandidaten und ihre Parteien weiterhin versuchen, wenig Angriffsflächen zu bieten, aber gleichzeitig wissen die Parteien, dass die Wahl voraussichtlich so knapp ausgehen wird, dass man mobilisieren muss: die eigenen Anhänger ohnehin, aber eben auch die noch Unentschlossenen. Und dazu braucht es Sichtbarkeit und Hörbarkeit. Diese wird auch durch die drei „Trielle“ (Aufeinandertreffen aller drei Kandidaten) im Fernsehen hergestellt: Beim jeweiligen Schlagabtausch geht es einerseits um inhaltliche Fragen und andererseits können wir uns ein Bild davon machen, wie die drei sich verhalten. Das dürfte aufschlussreich werden. 


Wie schätzen Sie den Einfluss der sozialen Medien bei der diesjährigen Wahl ein? Spielen sie eine größere Rolle als in der Vergangenheit?

Prof. Münch: Definitiv. Das bekommen jeder und jede der Kandidaten zu spüren, nicht zuletzt deshalb, weil diese Fehler in Zeiten der „Totalausleuchtung“ von Politikinnen und Politikern bei uns in der digitalen Dauerschleife ankommen (beide Zitate stammen von Bernhard Pörksen) – man denke nur an die peinlichen Lach-Bilder von Armin Laschet mitten im Flutgebiet. Annalena Baerbocks Schummeleien beim Lebenslauf und Fehler beim Zitieren wären auch für die klassischen Medien ein gefundenes Fressen gewesen, aber die digitalen Netzwerke sind in ihrem Urteil noch viel unerbittlicher. Auch Olaf Scholz hat Fehler gemacht – zum Beispiel als Hamburger Bürgermeister (G20-Gipfel) oder bei der Finanzaufsicht zu Wirecard. Womöglich übersteigen seine Fehler in der Vergangenheit die Erinnerungsfähigkeit der digitalen Netzwerke. Zudem sind die Materien zu komplex für die hämische Visualisierung und Kommentierung. Aber wer weiß, was noch kommt – der Wahlkampf startet ja jetzt erst richtig.


Welche Art der Regierungskoalition sehen Sie nach der Bundestagswahl 2021?

Prof. Münch: Die gesellschaftlichen und politischen Veränderungen der letzten drei Jahrzehnte wirken sich natürlich auch auf unser Parteiensystem aus: Die Zeiten, in denen zwei Fraktionen genügt haben, um eine Regierung zu bilden, sind aufgrund unseres veränderten Wahlverhaltens und der nachlassenden Parteibindung der Einzelnen vorbei. Angesichts der Neigung der meisten Deutschen, auf „Maß und Mitte“ zu setzen, spricht meines Erachtens trotz der schlechten Umfragewerte für Armin Laschet immer noch recht viel dafür, dass wir eine unionsgeführte Bundesregierung aus drei Fraktionen bekommen werden. Ich bin skeptisch, ob es Olaf Scholz gelingen wird, seine SPD von den Vorzügen einer „Deutschland-Koalition“ aus Union, SPD und FDP zu überzeugen.

Das wäre (nicht nur) für Scholz zwar der beste Plan B und für Armin Laschet und Christian Lindner sogar die bevorzugte Variante. Aber dazu müsste sich Scholz erst einmal gegenüber den Linken in der SPD durchsetzen. Er hat zwar voraussichtlich beste Argumente, aber die Unwägbarkeiten sind groß. Ungeachtet des Höhenflugs der letzten Woche: Eine SPD-geführte Bundesregierung halte ich für weniger wahrscheinlich. Erstens, weil die Union voraussichtlich besser abschneiden wird als die SPD. Vor allem aber, weil die FDP vermutlich nicht in eine Ampel-Regierung eintreten wird. Ich schließe natürlich auch eine Jamaika-Koalition nicht aus, weiß aber auch, dass diese weder von Armin Laschet noch von Christian Lindner favorisiert wird. In diesen Erwägungen kommt etwas zum Ausdruck, woran sich viele stören: In einem Verhältniswahlsystem mit mehreren Parteien bestimmen nicht die Wähler, sondern die Parteien über die Regierungsbildung.

Noch schwieriger wird die Prognose, wenn man bedenkt, dass bald eine weitere Wahl ansteht: Die Amtsdauer des amtierenden Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier endet am 18. März 2022. Die Bundesversammlung tritt voraussichtlich am 13. Februar 2022 zusammen. Es gehört nicht viel Phantasie dazu um darauf zu kommen, dass auch die Frage, welche Partei sich für welchen Kandidaten bei der Präsidentenwahl stark macht, Teil der Verhandlungen bei den Sondierungsgesprächen nach der Bundestagswahl sein wird. Kein Wunder, dass manche Wählerin und mancher Wähler Entscheidungsschwäche verspürt. Aber: Es ist besser mit Unsicherheit zu wählen, als die Wahl den anderen zu überlassen.


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