Warum Quarantäne eine urdemokratische Angelegenheit ist

6 Mai 2020

Die Quarantäne infolge der Corona-Pandemie ist ein Exerzitium der Demokratie: Der freie Bürger beugt sich der Vernunft, die selbstbestimmte Bürgerin akzeptiert die Entscheidungen der von ihr gewählten Regierung.

Ein Beitrag von Prof. Hedwig Richter, Professorin für Neuere und Neueste Geschichte

Wer glaubt, Gehorsam und Disziplin und Gleichschritt seien mit Demokratie unvereinbar, verpasst einen zentralen Aspekt von Demokratie und ihrer eigentümlichen Geschichte. Auch jener momentan aufblühende Heroismus, der unsere Gesundheit und unsere Körper angesichts der eigentlichen, hehren Werte der Demokratie für sekundär erklärt, unterliegt, unterkomplexen, also nicht umfassend genug betrachteten, Vorstellungen.

Gesundheit und Körper sind, sobald sie ins staatstheoretische und demokratiehistorische Licht geraten, so viel mehr als eine reine Privatsache. Auf dem Titel-Bild von Thomas Hobbes‘ Leviathan von 1651 finden sich in den leeren Straßen der Stadt nur Soldaten und Seuchen-Ärzte mit schnabelartigen Pesthauben. Hobbes‘ Theorien aber stehen am Beginn des modernen Staats: Nicht mehr Gott bildet die Grundlage der Legitimation, sondern die Bürger, die sich freiwillig dem Staat beugen. Und der Staat steht in der Pflicht die Naturmacht der Krankheit im Zaum zu halten.

Die historische Sorge des Staates um den Körper

Aber gilt der Zugriff des Staates auf den Körper nicht nur für vordemokratische Zeiten? Für die Untertanen ohne Freiheitsrechte? Das Gegenteil ist der Fall: Mit den Ideen von Gleichheit und Demokratie wuchs die Konzentration auf den Körper und seine Disziplinierung. Der moderne Staat bedurfte der gesunden Individuen, der Steuerzahler und der arbeitsamen Körper. Zugleich aber wurde die Disziplinierung enger und enger mit Freiheit verbunden – ein Paradox, das eine wesentliche Grundlage der sozialen und liberalen Demokratie bildet. „Ein schwachsinniger Despot kann Sklaven mit eisernen Ketten zwingen“, erklärte 1767 ein Aufklärer, „ein wahrer Politiker jedoch bindet sie viel fester durch die Kette ihrer eigenen Ideen“.

Die freiwillige Unterwerfung der Menschen gipfelte in der Vorstellung von der Partizipation des mündigen Bürgers, der im Staat mitwirkt, der Wahlen ernst nimmt und sich dem Gemeinwohl verpflichtet. Das sind Tugenden, die strenger Disziplinierung bedürfen. Im Kern dieser Vorstellungen von Selbstbestimmung steht der Körper. Der Bürger zeichnet sich dadurch aus, dass er einen Körper „hat“, er ist geradezu „der absolute Herr, der vollständige Besitzer seines Körpers“, erklärte während der Französischen Revolution ein Redner der Nationalversammlung. Denn wer versklavt ist und wessen Körper willkürlich von andern misshandelt werden darf, kann nicht frei sein. Und so blieb es lange unvorstellbar, dass Frauen, die weitgehend nicht über ihren Körper herrschten, Staatsbürgerinnen sein könnten. Hier wird auch deutlich, warum sich Demokratie stets in enger Verbindung mit dem Gesundheitswesen entwickelt hat. Wessen Körper schmerzt, ist nur bedingt ein freier Mensch. Und Hunger und Kälte widersprechen der Würde des Menschen. Der Staat muss also zum Sozialstaat werden, um die Körper und mit ihr die Menschenwürde zu schützen.

Die alten Traditionen der Gesundheitspflege

Spätestens in der Mitte des 19. Jahrhunderts war das den Hellsichtigen klar, und sie sprachen von der „socialen Demokratie“. Tatsächlich baute der Staat mit zunehmenden Partizipationsrechten den Sozialstaat und das Gesundheitswesen weiter aus. Der renommierte Mediziner Rudolf Virchow, eine der beeindruckendsten Gestalten der reichen deutschen Demokratiegeschichte, wurde seit 1848 nicht müde, das Wort zu verkünden: Keine Demokratie ohne Gesundheit, keine Gesundheit ohne Demokratie. Dabei ging es keineswegs darum, Kranken die Würde abzusprechen, vielmehr sollten vermeidbare Krankheiten bekämpft werden und Gesundheit nicht länger ein Privileg der Reichen bleiben. Virchows Untersuchungen von Seuchen hatten ihm gezeigt, dass Armut, Unfreiheit und Unbildung die Ursache vieler Krankheiten sind. Es gebe nur eine angemessene Staatsform, um die Bürger zu schützen: „freie und unumschränkte Demokratie“. Die Politikwissenschaftlerin Gundula Ludwig verweist darauf, wie Virchow mit Kollegen aus der immer mächtiger werdenden Disziplin der Hygiene die entscheidende Verbindung zwischen Demokratie und Gesundheit verdeutlichte: Die „Selbstregierung“.

Hygiene und Selbstbestimmung

Denn wenn die Gesundheit auf staatliche Übermacht angewiesen ist, auf blinden Gehorsam, steht es schlecht um sie. Sie bedarf der selbstbestimmten Mitarbeit der Bürger, ja sogar der Bürgerinnen, schon allein deswegen, weil die Staatsmacht an der Schwelle zur Wohnung Halt machen müsse, dort aber die Heimstätte von Sauberkeit und Gesundheit lägen. Im Kaiserreich begrüßten es Hygieniker und Mediziner, dass überall der „Autoritätenglaube“ schwinde und „individuelle Selbstständigkeit“ immer mehr Menschen ermächtige, ihre Körper angemessen zu pflegen. Viele Frauenrechtlerinnen gehörten in Deutschland ebenso wie in anderen Ländern zu den Künderinnen dieser Lehren. Ihre Kompetenz im Haus, ihre Fähigkeit zu Reinlichkeit und Ordnung und ihre Sorge um die Gesundheit seien eine der Grundlagen der Gesellschaften.

Die Weimarer Republik mit ihrem beeindruckenden Sozialstaat, bestätigte die alten Lehren Virchows. „Das deutsche Staatswesen ist eine Demokratie“, hieß es, „und da ein Herrscher zu einem schweren Beruf erzogen werden muss, so muss auch das Volk zur richtigen Ausübung der ihm übertragenen Herrschaft erzogen werden, damit es gewinne an Gesundheit und Kraft“. Für die junge Republik galt ebenso wie für viele andere Staaten im 20. Jahrhundert, dass die Einführung des Frauenwahlrechts mit einer beträchtlichen Ausweitung des Sozialstaats einherging.

Gewiss, die Nazis erwiesen sich dann als die großen Fanatiker der gestählten Körper und der Hygiene, und sie konnten an rassistische, menschenfeindliche Traditionen von Gesundheitsvorstellungen anknüpfen. Doch fehlte den Eugenikern und NS-Medizinern, was den Aufklärern und Demokratinnen so sehr am Herzen lag: die Gleichheit und die Selbstregierung. Der Gehorsam musste blind, der Gleichschritt willenlos, Gesundheit hierarchisch sein. Folgerichtig wurden Körper schutzlos der Gewalt ausgeliefert: in brutaler Erziehung, im Straßenterror der SS, im totalen Krieg und ultimativ im Massenmord an Millionen Kindern, Männern und Frauen.

Die Bundesrepublik aber konnte an die langen Traditionslinien der „socialen Demokratie“ anschließen, an das frühe Gesundheits- und Versicherungswesen des 19. Jahrhunderts und an die Weimarer Republik. Denn ohne den Schutz der Körper ergibt die Menschenwürde keinen Sinn.

 

Dieser Beitrag basiert auf einem kürzlich bei der Süddeutschen Zeitung erschienenen Text. Den gesamten Artikel zum Nachlesen finden Sie hier >>


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Titelbild: © iStockphoto /Animaflora