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MEINUN DEFGH Nr. 173, Freitag, 29. Juli 2022 ei der Lindner-Hochzeit war die Welt so sehr in Ordnung. Die Reichen, die Liberalen, die da oben feiern schamlos, anstatt zu tun, was ein anständiger Mensch im Angesicht von Krieg und Krisen tun müsste: verantwortungsvoll den Gürtel enger schnallen. Die Promi-Hochzeit war deswegen so schön und erregend, weil sie allen einen Glücksmoment des guten Gewissens bescherte. Verglichen mit Merz im Privatflieger ist der eigene Verbrenner ein Gefährt des Ehrenmanns, der Pauschalurlaub mit Flug ein Ausdruck bürgerlicher Bescheidenheit, und verglichen mit der Millionärsparty auf Sylt fühlt sich der Grillabend an wie ein Beitrag zum Klimaschutz. Es gibt viele diskursive Ablenkungsmanöver, um die Klimakrise auszublenden: Sommer sind heiß, China ist schlimmer, Krise war immer, Linke hassen die Freiheit, und dann sind da noch diese wohlstandsverwahrlosten Kids, die sich auf die Straße kleben. Doch die merkwürdigste Begleitmusik für das Szenario des brennenden Planeten ist die im hohen Ton der Empörung vorgetragene Klassenkampfrhetorik. Lange schien sie tot zu sein, nun aber erwacht sie zu neuem Leben und erfüllt eine neue Funktion: Bitte nicht die Deutschen belasten. Die Definition des Proletariats wird großzügig ausgeweitet auf jeden Deutschen, der ein Eigenheim besitzt, und jede Bürgerin mit Zweitwagen (braucht man ja auf dem Land). Im Grunde also auf alle – nur eben nicht auf die Lindner-Hochzeitsgesellschaft. Wer Zumutungen anmahnt und darauf hinweist, dass die ökologische Wende nicht ohne Einschränkungen für die Bevölkerung zu machen ist, darf mit einem Shitstorm und scharfer Zurechtweisung rechnen. So erklärt sich, dass das Gedenken an die Flut im Ahrtal nur Opfer zeigt und keinerlei Bewusstsein für die Tatsache, dass alle dort – wie eben alle andern auch – mit ihrem ganz normalen Leben den Planeten zerstören. Wer würde wagen, die Wahrheit auszusprechen, dass die Reihen der zerstörten Häuser und der davongeschwommenen Autos für ebenjenes Leben stehen, das die Flut hervorbringt? Für diese Verdrängung hat sich Deutschland den idealen Mann an die Spitze gesetzt, Olaf Scholz, den Nö-Kanzler. Hat er praktische Tipps zum Energiesparen? „Nö.“ Könnte er die deutschen Sicherheitsgarantien für die Ukraine konkretisieren? „Könnte ich.“ Die Deutschen haben sich mit diesem Politiker auch die Partei ausgesucht, die noch nie die schlichte Wahrheit auszusprechen vermochte: Da sich die Welt radikal ändern wird, müssen alle mitmachen, nicht nur die da oben. Von der aktuellen FDP-Spitze und ihrem infantilen Freiheitsbegriff ließ sich B Wer sagt’s ihnen? Wenn sich die Welt ändern soll, müssen alle mitmachen doch die Deutschen wehren sich gegen diese Einsicht und haben sich dazu den passenden Kanzler gesucht VON HEDWIG R ICHTER selbst in Regierungsverantwortung nichts anderes erwarten. Und Markus Söder lässt sich die Gelegenheit für ein bisschen Populismus routinemäßig nicht entgehen und fordert einfach mal mehr von allem für alle. Bemerkenswert ist allerdings, warum die SPD den naheliegenden Schritt nicht hinkriegt, der Bevölkerung zu sagen, was ansteht. Vermutlich weil sich die Sozialdemokratie als die Partei des sogenannten kleinen Mannes versteht. Da sie historisch auf Verteilung geeicht ist – ein Projekt, mit dem sie Großes erreicht hat –, sieht sie sich heute offenbar außerstande, Menschen etwas abzuverlangen, die weniger besitzen als einen Privatjet. Die SPD will niemandem etwas abverlangen, der weniger besitzt als einen Privatjet Wie absurd die Klassenkampfrhetorik geworden ist, zeigt sich nicht zuletzt an ihrer konservativen Variante, die Lastenräder und vegane Ernährung als Ausdruck eines dekadenten Oberschichtenlebens zu stilisieren. Das Recht auf Fleisch zu fordern, viel und günstiges Fleisch, gilt ebenso als Kampf für die Armen wie das Recht auf einen Billigflug zur Urlaubsinsel. „Nicht jeder kann sich Biofleisch leisten“ ist das Äquivalent zu: Wer dürfte dem hart arbeitenden Proletarier seine Freude an der Autobahn nehmen! Die Klassenkampfrhetorik wird schließlich auch von jenen vorgetragen, die ganz grundsätzlich der Meinung sind, dass die Massen (vor allem die deutschen) jederzeit bereit sind, abzustürzen in die politi- sche Verantwortungslosigkeit. Wer dem Deutschen seinen Zweitwagen wegnimmt und nicht die Pendlerpauschale erhöht, riskiert den Kollaps. Wer den Deutschen das Gas kürzt, muss mit „Volksaufständen“ rechnen, erklärte allen Ernstes die sonst für ihre Staatsklugheit bekannte Außenministerin. Eine ängstliche Frage schwingt dabei seit 2018 mit: Wollen wir wirklich „Gelbwesten“ riskieren? Dabei sollten die Gelbwesten uns nicht Angst lehren, sondern vielmehr zu der Einsicht führen, dass Proteste gegen die notwendigen Transformationen auch im Gewande einer Volksbewegung nicht weniger unvernünftig sind. Wer im Namen der sozialen Gerechtigkeit die anstehenden Veränderungen ablehnt, hat den Schuss nicht gehört. Es gibt keine soziale Gerechtigkeit ohne einen bewohnbaren Planeten. Keine Frage: Die planetare Zerstörung ist auch eine soziale Frage. In Stadtvierteln mit einem durchschnittlichen geringeren Einkommen sind in aller Regel weniger Bäume, weniger Brunnen, mehr und lautere Straßen und sowieso engere Wohnungen. Weltweit gilt die Regel: Die armen Länder trifft die planetare Zerstörung in einem viel brutaleren Ausmaß. Doch soziale Gerechtigkeit kann nicht mehr heißen, den Wahnsinn für alle zu finanzieren. Vielmehr muss der Wahnsinn um der Gerechtigkeit willen gestoppt werden. Nicht mehr Pendlerpauschale, sondern besserer öffentlicher Verkehr. Nicht mehr Eigenheim und mehr Wohnraum für alle, sondern weniger Wohnraum für viele und genug für alle. Nicht mehr Schnitzel für alle, sondern gute Nahrung auch für die Ärmsten. Warum spricht es die SPD, warum sprechen es so viele in der Politik nicht aus, was auf der Hand liegt: Soziale Gerechtigkeit heißt nicht mehr, dass es die Kinder besser haben als man selbst, sondern dass sie einen Planeten vorfinden, den sie in Solidarität mit dem globalen Süden bewohnen können. Hedwig Richter ist Historikerin an der Universität der Bundeswehr in München