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   Henrik Vanger sah kurz auf seine Hände hinunter und nippte dann an seinem Kaffee, als brauchte er eine kleine Pause, bevor er sich endlich seinem Anliegen nähern konnte.
   »Mikael, bevor ich anfange, will ich gerne eine Abmachung mit Ihnen treffen. Ich möchte, dass Sie zwei Dinge für mich tun. Das eine ist ein Vorwand und das andere ist mein eigentlicher Auftrag. «
   »Was für eine Abmachung? «
   »Ich werde Ihnen eine zweiteilige Geschichte erzählen. Der erste Teil handelt von der Familie Vanger. Das ist der Vorwand. Es ist eine lange und dunkle Geschichte, aber ich werde versuchen, mich an die ungeschminkte Wahrheit zu halten. Der andere Teil dieser Geschichte handelt von meinem eigentlichen Anliegen. Ich glaube, Sie werden meine Erzählung streckenweise als ein wenig ... verrückt empfinden. Was ich von Ihnen möchte, ist, dass Sie sich meine Geschichte ganz zu Ende anhören — auch das, was Sie für mich tun sollen und was ich Ihnen dafür anbiete —, bevor Sie entscheiden, ob Sie den Auftrag annehmen wollen oder nicht. «
   Mikael seufzte. Es war offensichtlich, dass Henrik Vanger nicht vorhatte, sich kurz zu fassen. Und selbst wenn er Frode anrief und ihn bat, ihn zum Bahnhof zu fahren, würde dessen Auto wegen der Kälte nicht anspringen, da war er ganz sicher.
  Offenbar hatte der alte Mann viel Zeit darauf verwendet, sich den richtigen Köder für ihn auszudenken. Mikael hatte den Eindruck, dass alles eine wohlüberlegte Inszenierung war: die überraschende Eröffnung, dass er Henrik Vanger als Kind schon begegnet war; das Bild seiner Eltern im Fotoalbum und die Betonung, dass Mikaels Vater und Henrik Vanger Freunde gewesen waren; die Schmeichelei, dass er wusste, wer Mikael Blomkvist war und dass er seine Karriere über die Jahre aus der Ferne beobachtet hatte ... in all dem steckte vermutlich ein Körnchen Wahrheit, aber es war auch ganz elementare Psychologie. Mit anderen Worten: Henrik Vanger konnte Menschen gut manipulieren und hatte im Laufe der Jahre auf geheimen Vorstandssitzungen Erfahrungen mit bedeutend tougheren Menschen sammeln können. Nicht zufällig war er zu einem von Schwedens führenden Industriemagnaten aufgestiegen.
   Mikael folgerte, dass Henrik Vanger etwas von ihm wollte, wozu er nicht die geringste Lust hatte. Jetzt galt es nur noch herauszufinden, was es war, und danach abzulehnen. Und möglicherweise doch noch den Nachmittagszug zu erwischen.
   »Sorry, no deal«, antwortete Mikael. Er sah auf die Uhr. »Ich bin seit zwanzig Minuten hier. Ich gebe Ihnen genau dreißig Minuten, mir zu erklären, was Sie wollen. Danach rufe ich mir ein Taxi und fahre nach Hause.«
   Einen Augenblick lang fiel Henrik Vanger aus seiner Rolle als gutherziger Patriarch, und Mikael konnte ahnen, wie der rücksichtslose Geschäftsführer auf dem Höhepunkt seiner Macht ausgesehen hatte, wenn er auf Widerstand stieß oder sich mit einem widerspenstigen Juniorgeschäftsführer auseinandersetzen musste. Ebenso schnell kräuselte wieder ein grimmiges Lächeln seine Lippen.
   »Ich verstehe. «
   »Sagen Sie mir einfach ohne Umschweife, was ich für Sie tun soll; dann kann ich entscheiden, ob ich es tun will oder nicht.«     
   »Wenn ich Sie in dreißig Minuten nicht überzeugen kann, schaffe ich es auch nicht in dreißig Tagen, wollen Sie damit sagen.« 
   »So ungefähr. «
   »Aber die Vorgeschichte ist wirklich lang und kompliziert. «
   »Verkürzen und vereinfachen Sie sie. Das ist in Journalistenkreisen so üblich. Neunundzwanzig Minuten.«

...

  

   Diese Blume war nur eines der vielen rätselhaften Exemplare, die jedes Jahr am 1. November in einem gefütterten Umschlag eintrafen. Jedes Jahr war es eine andere Art, aber es waren stets schöne und meistens relativ seltene Blumen. Wie immer war die Blume gepresst, sorgfältig auf Aquarellpapier gelegt und hinter Glas in einem einfachen Rahmen mit dem Format 29 x 16 Zentimeter befestigt worden.

Das Geheimnis um die Blumen war den Massenmedien oder der Allgemeinheit nie bekannt geworden, sondern nur einem ausgewählten Kreis. Vor drei Jahrzehnten war das jährliche Eintreffen der Blume Gegenstand von Analysen des Staatlichen Kriminaltechnischen Laboratoriums gewesen; Experten für Fingerabdrücke und Grafologen, Ermittler und ein paar Verwandte und Freunde des Empfängers hatten sich mit dem Rätsel beschäftigt. Nun bestand der Kreis der Akteure nur mehr aus drei Personen: dem alternden Geburtstagskind, dem pensionierten Polizisten und natürlich dem Unbekannten, der das Geschenk geschickt hatte. Da sich zumindest die beiden Erstgenannten bereits in einem so respektablen Alter befanden, dass es Zeit wurde, sich auf das Unausweichliche Vorzubereiten, würde sich der Kreis der Interessierten bald noch verkleinern.   

...

 

   Die Wahrscheinlichkeit, dass am 26. Dezember gegen Mitternacht jemand auf dem Korridor auftauchen würde, ging gegen null. Sie öffnete die Tür mit einem heimlich angefertigten Duplikat des Generalschlüssels, das sie sich vor ein paar Jahren besorgt hatte.
   Armanskijs geräumiges Zimmer enthielt einen Schreibtisch Besucherstühle und einen kleinen Konferenztisch in der Ecke der acht Personen Platz bot. Es war tadellos aufgeräumt. Sie hatte lange nicht mehr bei ihm herumgeschnüffelt, doch wenn sie jetzt schon einmal hier war . . . Sie verbrachte eine Stunde an seinem Schreibtisch und brachte sich in diversen Angelegenheiten auf den neuesten Stand: wie die Suche nach einem mutmaßlichen Unternehmensspion voranging, welche Personen in ein Unternehmen eingeschleust wurden, in dem eine organisierte Diebesbande ihr Unwesen trieb, und welche Maßnahmen ergriffen worden waren, um eine Klientin zu schützen, die befürchtete, dass ihre Kinder von ihrem Vater entführt werden könnten.
   Zum Schluss legte sie alle Papiere wieder so zurück, wie sie sie vorgefunden hatte, schloss die Tür von Armanskijs Büro ab und ging nach Hause in die Lundagata. Sie war zufrieden mit diesem Tag.

Mikael Blomkvist schüttelte abermals den Kopf. Henrik Vanger hatte hinter seinem Schreibtisch Platz genommen und sah Mikael ruhig an, als wäre er schon auf alle Einwände vorbereitet.
   »Ich weiß nicht, ob wir jemals die Wahrheit erfahren, aber ich will nicht sterben, ohne einen letzten Versuch unternommen zu haben«, sagte der alte Mann. »Ich möchte Sie beauftragen, sämtliches Beweismaterial noch ein letztes Mal durchzugehen.«
   »Das ist doch verrückt«, sagte Mikael.
   »Warum sollte das verrückt sein?«
   »Ich habe genug gehört, Henrik. Ich verstehe Ihre Trauer, aber ich möchte auch ehrlich zu Ihnen sein. Was Sie von mir wollen, ist nichts als Verschwendung von Zeit und Geld. Sie bitten mich, die Lösung eines Mysteriums herbeizuführen, an dem Kriminalpolizisten und professionelle Ermittler über die Jahre gescheitert sind, obwohl sie auf viel mehr Erfahrung und bessere Hilfsmittel zurückgreifen konnten als ich. Sie bitten mich, ein Verbrechen aufzuklären, das vor fast vierzig Jahren begangen wurde. Wie soll ich das denn anstellen?«

...

 

Nach einem halben Jahr erfolgloser Grübeleien gab es einen ersten Hoffnungsschimmer im Fall Harriet Vanger. Mikael entdeckte innerhalb weniger Tage in der ersten Juniwoche drei neue Puzzleteile. Zwei von ihnen fand er allein, beim dritten hatte er Hilfe.
   Nach Erikas Besuch hatte er das Fotoalbum aufgeschlagen, stundenlang ein Bild nach dem anderen angeschaut und sich zu erinnern versucht, worauf er beim letzten Mal unbewusst reagiert hatte. Schließlich legte er alles beiseite und arbeitete stattdessen an der Familienchronik weiter.
   Ein paar Tage später saß Mikael gerade im Bus und dachte an etwas völlig anderes, als der Fahrer in die Bahnhofstraße einbog. Ihm wurde mit einem Schlag klar, was ihm die ganze Zeit im Hinterkopf herumgespukt hatte. Er war so perplex, dass er bis zur Endhaltestelle am Bahnhofsplatz sitzen blieb, und dann sofort nach Hedeby zurückfuhr, um zu prüfen, ob er sich richtig erinnert hatte.
   Es war das allererste Bild im Album und zugleich das letzte Bild von Harriet Vanger. Es war auf der Bahnhofstraße in Hedestad aufgenommen worden, wo sie dem Umzug anlässlich des »Tages des Kindes« zugesehen hatte.
   Das Bild unterschied sich von den übrigen Fotos. Es war am selben Tag aufgenommen worden, aber es zeigte als einziges von knapp hundertachtzig Bildern nicht den Unfall.
   Das Bild war von der anderen Straßenseite aus aufgenommen worden, wahrscheinlich aus einem Fenster im ersten Stock. Das Weitwinkelobjektiv hatte die Front eines Lastwagens im Festzug eingefangen. Auf der Ladefläche standen Frauen in glitzernden Badeanzügen und Haremshosen und warfen Bonbons ins Publikum. Vor dem Lastwagen hüpften drei Clowns herum.
   Harriet stand in der ersten Reihe auf dem Bürgersteig. Neben ihr standen drei Klassenkameraden und um sie herum mindestens hundert andere Einwohner von Hedestad.
   Das Publikum verhielt sich, wie sich ein Publikum verhalten soll. Diejenigen, die am weitesten links standen, konzentrierten sich auf die Ladefläche mit den leicht bekleideten Mädchen. Sie sahen vergnügt aus. Kinder zeigten mit dem Finget Ein paar lachten. Alle wirkten fröhlich.
   Alle bis auf eine.

...

Am Vormittag des 24. Dezember fuhr Mikael nach Årsta zu seiner Exfrau und seiner Tochter Pernilla, um ihnen seine Weihnachtsgeschenke zu bringen. Pernilla bekam einen Computer, den sie sich gewünscht hatte und den Mikael und Monica gemeinsam gekauft hatten. Mikael bekam eine Krawatte von seiner Exfrau und einen Åke-Edwardson-Krimi von seiner Tochter. Im Gegensatz zur letzten Weihnacht waren sie diesmal ganz aufgekratzt von dem Mediendrama, das sich rund um Millennium abspielte.
   Sie aßen zusammen zu Mittag. Mikael musterte Pernilla verstohlen. Er hatte seine Tochter seit ihrem Überraschungsbesuch in Hedestad nicht mehr gesehen. Plötzlich fiel ihm auch ein, dass er mit ihrer Mutter nie über ihre Leidenschaft für eine Sekte von Bibelchristen in Skellefteå gesprochen hatte. Ebenso wenig konnte er erzählen, dass es die Bibelkenntnisse seiner Tochter gewesen waren, die ihn bei der Suche nach Harriet Vanger letztendlich auf die richtige Spur gebracht hatten. Er hatte seitdem tatsächlich kaum an seine Tochter gedacht und spürte, wie ihm das schlechte Gewissen einen Stich versetzte.
   Er war kein guter Vater.
   Nach dem Mittagessen gab er seiner Tochter einen Abschiedskuss, traf sich mit Lisbeth und fuhr mit ihr nach Sandhamn. Seit die Millennium-Bombe hochgegangen war, hatten sie sich kaum gesehen. Sie kamen am Heiligabend spät bei Mikaels Hütte an und blieben über die Feiertage dort.

 

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Buchcover Verblendubg

 

aus

Stieg Larsson: Verblendung
Club Taschenbuch, 2009

 

 

erkannt von: Prof. Thienel